Eine Geschichte aus zwei Städten
Gesichtsausdruck zu fragen schien, ob es ihm hier gefalle.
Es waren drei ineinandergehende Zimmer auf dem Stockwerk, und ihre Türen standen offen, damit die Luft frei durchstreichen konnte. Mr. Lorry trat von dem einen ins andere und
machte sich lächelnd Gedanken über die Ähnlichkeit, die er in allem um sich her mit Miß Manette zu finden glaubte. Das erste Zimmer war das beste; in ihm befanden sich Lucies Vögel, ihre Blumen und Bücher, ihr Schreibpult und Arbeitstisch und ihr Malkasten. Das zweite diente dem Doktor als Ordinationszimmer und wurde außerdem zum Speisen benutzt. In dem dritten, in das die rauschende Platane ihre zitternden Schatten warf, stand das Bett des Doktors und dort in einer Ecke die nicht mehr gebrauchte Schuhmacherbank mit dem Handwerkszeug, gerade so, wie wir sie im fünften Stock jenes umheimlichen Hauses neben dem Weinschank in der Vorstadt Saint Antoine zu Paris gesehen haben.
»Es wundert mich«, sagte Mr. Lorry, davor stehenbleibend, »daß er diesen Mahner an seine Leiden hierbehält.«
»Was ist da zu verwundern?« erklang eine Frage, die so plötzlich sein Ohr traf, daß er zusammenfuhr.
Sie kam von Miß Proß, der wilden, roten und kräftigen Weibsperson, deren Bekanntschaft er ursprünglich in Dover im Hotel König Georg gemacht und seitdem weiter entwickelt hatte.
»Ich meinte …«, begann Mr. Lorry.
»Pah, wer wird meinen«, unterbrach ihn Miß Proß, und Mr. Lorry enthielt sich einer weiteren Bemerkung.
»Wie gehts Euch?« fragte dann die Dame in einem scharfen Tone, zugleich aber mit einem Beiklang, der andeutete, daß sie keinen Groll gegen ihn hege.
»Recht gut; ich danke Euch«, antwortete Mr. Lorry bescheiden. »Und wie befindet Ihr Euch?«
»Kann's nicht rühmen«, versetzte Miß Proß.
»Wirklich?«
»Jawohl!« erwiderte Miß Proß. »Ich bin sehr in Not wegen meines Täubchens.«
»Wirklich?«
»Um Himmels willen, sagt doch einmal etwas anderes als ›wirklich‹, oder Ihr bringt mich damit unter den Rasen«, entgegnete Miß Proß mit ihrer gewohnten Deutlichkeit.
»In der Tat also?« sagte Mr. Lorry, um seine Sache besser zu machen.
»In der Tat ist schlecht genug, aber ich will mir's gefallen lassen«, versetzte Miß Proß. »Ja, ich habe viel Kummer.«
»Darf ich nach dem Grunde fragen?«
»Ich will nicht die Dutzende von Leuten hier haben, die meines Täubchens gar nicht würdig sind, aber gleichwohl herkommen, um nach ihm zu sehen«, sagte Miß Proß.
»Finden sich denn so viele in dieser Absicht ein?«
»Hunderte«, sagte Miß Proß.
Die Dame hatte die Eigenheit, der man auch sonst häufig genug begegnet, daß sie eine ursprüngliche Behauptung, wenn man sie in Zweifel zog, noch übertrieb.
»Du mein Himmel!« rief Mr. Lorry, der nichts Besseres darauf zu erwidern wußte.
»Ich lebte von ihrem zehnten Jahre an bei dem Herzblättchen – oder vielmehr, das Herzblättchen hat so lange bei mir gelebt und mich dafür bezahlt, was sie sicherlich – Ihr könnt einen Eid darauf ablegen – nun und nimmermehr hätte tun sollen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie und mich auch so fortzubringen. Und das ist in der Tat sehr hart«, sagte Miß Proß.
Mr. Lorry, der nicht recht darüber ins klare kommen konnte, was sehr hart war, schüttelte den Kopf, weil ihm sonst keine passende Antwort einfiel.
»Stets tauchen Leute aller Art auf, die meines Täubchens durchaus nicht würdig sind«, sagte Miß Proß. »Als Ihr damit anfingt …«
»Ich hätte damit angefangen, Miß Proß?«
»Etwa nicht? Wer hat denn ihren Vater wieder unter die Lebendigen gebracht?«
»Oh, wenn dies der Anfang ist …« sagte Mr. Lorry.
»Es war doch nicht das Ende, denke ich. Ich sage, als Ihr damit anfingt, war es schon hart genug. Nicht, daß ich etwas anderes an ihm auszusetzen hätte, als daß er eine solche Tochter nicht verdient, und das ist keine üble Nachrede, denn es war nicht zu erwarten, daß irgendein Mensch wert sein konnte, ihr Vater zu heißen. Aber zwei- und dreimal hart ist's, daß nach ihm, dem ich noch hätte vergeben können, ganze Schwärme von Leuten hierherkamen, um mir die Liebe meines Täubchens zu entziehen.«
Mr. Lorry wußte, daß Miß Proß sehr eifersüchtig war, hatte aber auch unter ihrer rauhen Oberfläche eines von jenen uneigennützigen Geschöpfen kennengelernt, die man nur unter dem Frauengeschlecht findet und die sich freiwillig aus lauterer Anhänglichkeit und Liebe sklavisch fesseln an die Jugend, die für sie entschwunden
Weitere Kostenlose Bücher