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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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erklärte. Dies war ein ungeheurer dynastischer Rückschlag für Lothar, aber er scheint die Entscheidung des Papstes akzeptiert zu haben. Auch wenn er weiter nach einem anderen Weg suchte, sich scheiden zu lassen, gestand er doch öffentlich ein, dass die Anschuldigungen gegenüber Theutberga jeder Grundlage entbehrten und die Verleumdete ganz und gar unschuldig war.
    Wegen der starken Parallelen zur Legende um Susanna war es immer schon verlockend, den Kristall mit dem königlichen Drama in Verbindung zu bringen. Vielleicht war er als ein Geschenk für Theutberga in Auftrag gegeben worden, um Lothars aufrichtige Anerkennung ihrer Unschuld zu demonstrieren – wenn dem so ist, dann handelt es sich um ein privates Bekenntnis, das einen zeitweiligen Waffenstillstand innerhalb ihres Ehekriegs markiert. Aber einige Aspekte hinsichtlich der Darstellung der letzten Szene weisen darauf hin, dass mit großer Sicherheit etwas viel Bedeutenderes dahinter steht. Im abschließenden Bild weicht der Künstler vom biblischen Text ab und zeigt, wie Susanna von einem zu Gericht sitzenden König für unschuldig erklärt wird, und die Inschrift nennt explizit Lothar. Die Botschaft ist klar: Eine der vornehmsten Pflichten des Königs ist es, zu gewährleisten, dass Recht gesprochen wird – kurz gesagt: der König muss die Regeln des Gesetzes schützen und respektieren, auch wenn das für ihn selbst große persönliche Verluste bedeutet. Gerechtigkeit ist beinahe
die
bestimmende königliche Tugend.
    Eine Abhandlung, vermutlich für Lothar selbst verfasst, führt dies aus:
    «Der gerechte und friedvolle König denkt sorgfältig über jeden Fall nach, und da er die Kranken und Armen unter seinem Volk nicht verachtet, lässt er gerechte Urteile ergehen, die die Schlechten niederwerfen und die Guten erheben.»
    Diese Ideale, mehr als tausend Jahre zuvor formuliert, sind für das politische Leben im heutigen Europa noch immer zentral. Lord Bingham erklärte mir:
    «In der Mitte des Kristalls sieht man den König, der ihn in Auftrag gab, in der Rolle des Richters. Das ist ganz besonders interessant und wichtig, denn historisch betrachtet galten Krone und Monarchie stets als die Quelle der Gerechtigkeit. Als Königin Elisabeth II. 1953 ihren Krönungseid leistete, schwor sie einen sehr alten, in einer Urkunde von 1688 niedergelegten Eid, dass sie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in all ihren Entscheidungen walten lassen würde. Dies ist genau die Rolle, in der man König Lothar sieht – in der Rolle desjenigen, der gerade persönlich Recht spricht, was die Königin natürlich nicht mehr tut, aber die Richter, die das in ihrem Namen tun, sind sehr stolz darauf, sich die Richter Ihrer Majestät nennen zu dürfen.»
    Der Susanna-Kristall wurde für einen König ohne Erben in einem Königreich ohne Zukunft gemacht. 869, als Lothar ungeschieden starb, teilten seine Onkel seine Gebiete in der Tat untereinander auf, und alles, was von Lotharingien heute geblieben ist, ist der Name Lothringen. Durch mehr als tausend Jahre hindurch, tatsächlich bis 1945, war Lothars Mittelreich bitter umkämpft von den Nachfolgern der gefährlichen Onkel, Frankreich und Deutschland. Wenn es Lothar gelungen wäre, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, und wenn er einen legitimen Erben gehabt hätte, dann könnte Lothringen heute mit Spanien, Frankreich und Deutschland als einer der großen Staaten des kontinentalen Europa konkurrieren. Lotharingien ging zugrunde, aber das Prinzip, das Lothars Kristall verkündet, hat überlebt: Eine zentrale Pflicht des Herrschers eines Staates ist es, zu gewährleisten, dass Recht gesprochen wird, unparteiisch und in öffentlichen Gerichtsverfahren. Unschuld muss geschützt werden. Der Lothar-Kristall ist eines der ersten europäischen Bildzeugnisse, in denen sich eine Vorstellung von der Herrschaft des Rechts spiegelt.

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Statue der Tara
    Bronzestatue aus Sri Lanka
700–900 n. Chr.
    Nahezu jede Religion hat ihre Geister oder Heiligen, Götter oder Göttinnen, die angerufen werden können, um uns durch schwere Zeiten zu begleiten. Wenn Sie um 800 auf Sri Lanka gelebt hätten, hätten Sie vermutlich den Namen Taras, des Geistes des selbstlosen Mitgefühls, angerufen. Durch die Jahrhunderte hindurch haben zahlreiche Künstler Tara eine körperliche Gestalt gegeben, aber es ist kaum vorstellbar, dass eine dieser Statuen schöner ist als die goldene, fast lebensgroße Figur, die heute unübersehbar die lange Asien-Abteilung des

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