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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Britischen Museums beherrscht.
    Die Tara-Statue besteht aus einem einzigen massiven Bronzeguss, der mit Gold überzogen wurde. Als sie neu war, muss sie, beschienen von der Sonne Sri Lankas, geradezu blendend schön gewesen sein. Auch wenn ihre Vergoldung nun schon ziemlich abgenutzt ist und sie nur vom kühlen Licht Bloomsburys angestrahlt wird, geht von ihr auch heute noch ein überwältigender Glanz aus. Sie ist ungefähr dreiviertel lebensgroß, und sie steht, wie es ihr gemäß ist, auf einem Sockel, so dass sie, wenn wir zu ihr aufsehen, wohlwollend auf uns hinunter blickt. Ihr Gesicht sagt sofort, dass sie aus Südasien stammt. Aber das ist nicht das Erste, was den Besuchern auffällt, wenn sie sie betrachten: Sie hat wirklich eine ziemlich unmögliche Stundenglas-Figur, und ihr Oberkörper ist ganz und gar nackt. Ihre vollen und perfekt gerundeten Brüste erheben sich über einer sehr schmalen Wespentaille. Weiter unten legen sich die schimmernden Falten eines hauchdünnen Sarongs um ihren wohlgeformten Unterkörper und bringen diesen verführerisch zur Geltung.
    Als Tara in den 1830er Jahren ins Britische Museum kam, wurde sie sofort in dieDepoträume gebracht und dort dreißig Jahre lang verwahrt, weshalb nur spezialisierte Wissenschaftler sie auf Anfrage zu Gesicht bekamen. Möglicherweise erachtete man sie ihrer erotischen und wollüstigen Erscheinung wegen als zu gefährlich für die öffentliche Ausstellung. Aber diese Statue wurde nicht gemacht, um den Betrachter in körperliche Erregung zu versetzen. Sie ist ein religiöses Geschöpf, einer der Schutzgeister, an den die Buddhisten sich in Not vertrauensvoll wenden können, entstanden aus einer Tradition heraus, die keine Schwierigkeiten damit hat, Göttlichkeit und Sinnlichkeit zu vereinen. Die Tara-Statue entführt uns in eine Welt, in der Glaube und körperliche Schönheit ineinanderfließen, um uns über die Grenzen unseres Ichs hinauszutragen. Außerdem erzählt sie uns eine Menge über die Lebenswelt Sri Lankas und Südasiens vor 1200 Jahren.

    Die Insel Sri Lanka, von Indien nur durch gut dreißig Kilometer flachen Gewässers getrennt, war schon immer ein wichtiger Knotenpunkt für den Seehandel, der die Länder des Indischen Ozeans miteinander verband. In den Jahren um 800 stand Sri Lanka nicht nur mit den benachbarten Königreichen von Südindien in engem, ja sogar ständigem Kontakt, sondern auch mit dem islamischen Reich der Abbasiden im Mittleren Osten, mit Indonesien und mit dem China der Tang-Dynastie. Edelsteine aus Sri Lanka waren teuer; vor 1200 Jahren wurde mit den Rubinen und Granaten der Insel regelmäßig in östlicher und westlicher Richtung bis hin zum Mittelmeer und möglicherweise sogar bis nach Großbritannien Handel getrieben. Einige der Juwelen des großen angelsächsischen Bootsgrabes von Sutton Hoo (siehe Kapitel 47) könnten gut aus Sri Lanka stammen.
    Aber es waren nicht nur Waren, die reisten. Die Lehren Buddhas, der um 500 v. Chr. in Nordindien lebte und predigte (siehe Kapitel 41), hatten sich mehr und mehr zu einem komplexen philosophischen und spirituellen Handlungssystem entwickelt, das die Seele des Einzelnen von allem Blendwerk und von den Leiden dieser Welt befreien sollte. Der neue Glaube verbreitete sich rasch entlang der Handelswege Indiens. Als diese Statue der Tara entstand, war Sri Lanka also schon seit mehr als tausend Jahren vorwiegend buddhistisch geprägt. Die spezielle Richtung des Buddhismus, der in Sri Lanka zu dieser Zeit vorherrschte, räumte göttlichen Wesenheiten, die Bodhisattvas genannt wurden und den Gläubigen helfen konnten, besser zu leben, einen besonderen Stellenwert ein. Tara ist eine von ihnen.
    Professor Richard Gombrich, ein führender Experte auf dem Gebiet buddhistischer Geschichte und buddhistischen Denkens, erläutert ihren Hintergrund:
    «Sie ist eine Personifikation. Sie verkörpert als Person symbolisch die Kraft Buddhas, dich zu erretten und dich über den Ozean der Welt zu tragen, in die du, wie die meisten Buddhisten glauben, immer wieder hineingeboren wirst, bis du deinen Ausweg findest. Es gibt einen bestimmten zukünftigen Buddha, Bodhisattva Avalokiteshvara, der zum ersten Mal in Texten auftaucht, die vermutlich aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. datieren. Ursprünglich wirkte er nur in seiner eigenen Gestalt, aber nach einigen Jahrhunderten kam die Idee auf, seine errettende Kraft im Bild einer Gottheit zu personifizieren. Sie führt sein Mitgefühl und seine Macht

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