Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
Vom Netzwerk:
vor Augen. Tara ist ganz einfach eine Erscheinungsform von Avalokiteshvara.»
    Tara stand wahrscheinlich im Inneren eines Tempels, und ursprünglich muss es dort neben ihr eine korrespondierende Skulptur ihres Gemahls Avalokiteshvara gegeben haben, aber sein Abbild existiert nicht mehr.
    Genau genommen, wurde Tara nicht gemacht, um angebetet zu werden, sondern um einen Fokus zu bieten für Meditationen über die Tugenden, die sie verkörpert – Mitgefühl und die Kraft, zu erretten. Hauptsächlich Priester oder Mönche einer privilegierten Elite bekamen sie zu sehen; nur sehr wenigen Menschen war es also möglich, vor ihrem Standbild zu meditieren.
    Wenn wir vor ihr stehen und etwas darüber wissen, was sie für Gläubige bedeutete, dann können wir besser verstehen, warum diejenigen, die sie erschufen, sie auf diese Weise darstellten. Ihre Schönheit und Heiterkeit vermitteln uns ihr unendliches Mitgefühl. Ihre rechte Hand, die sie seitlich nach unten hält, ruht nicht, sondern zeigt die Position des V
arada Mudra
, der Geste, die das Gewähren von Wünschen symbolisiert – eine klare Demonstration ihrer primären Rolle als großherzige Helferin der Gläubigen. Ihre vergoldete Haut und die Juwelen, die sie einst schmückten, machen deutlich, dass diese Statue der Tara nur von Menschen in Auftrag gegeben worden sein kann, die über großen Reichtum verfügten.
    Es kommt sehr selten vor, dass eine Statue, die so groß ist wie diese, erhalten bleibt und davor bewahrt wird, eingeschmolzen zu werden; tatsächlich kennen wir kein anderes Exemplar dieser Größe aus dem mittelalterlichen Sri Lanka. Zudieser Zeit wurden die meisten großen Bronzestatuen gegossen, indem man das Metall um einen tönernen Körper fließen ließ, wodurch eine hohle Figur entstand. Tara hingegen besteht durch und durch aus Bronze. Wer auch immer sie angefertigt hat, muss eine Menge Bronze, seltene Kunstfertigkeit und viel Erfahrung mit dieser anspruchsvollen Art der Herstellung gehabt haben. Tara ist nicht nur ein schönes Objekt; sie ist auch eine bemerkenswerte technische Leistung und muss sehr teuer gewesen sein.
    Wir wissen nicht, wer dafür bezahlt hat, dass Tara angefertigt wurde – es könnte der Herrscher irgendeines der vielen Königreiche gewesen sein, die um 800 ihre Gebietsansprüche in Sri Lanka miteinander ausfochten. Wer auch immer es gewesen sein mag, er erhoffte sich ganz klar ihre Hilfe auf dem Weg zur Erlösung. Wie überall waren Geschenke an religiöse Einrichtungen in Sri Lanka auch Teil der politischen Strategie von Herrschern, die sich auf diese Weise öffentlich ihrer privilegierten Verbindungen zum Göttlichen versicherten.
    Faszinierend an dieser Skulptur ist auch, dass Tara zu der Zeit, als sie entstand, erst seit relativ kurzem zum Buddhismus konvertiert war. Sie war ursprünglich eine Muttergottheit der Hindus und ist erst später von den Buddhisten übernommen worden – ein typisches, aber besonders schönes Beispiel für den konstanten Dialog und Austausch zwischen Buddhismus und Hinduismus, der über Jahrhunderte hinweg stattfand und von dem heute Statuen und Bauwerke in ganz Südostasien Zeugnis ablegen. Tara zeigt, dass Buddhismus und Hinduismus keine fest definierten Glaubenskodizes sind, sondern Lebens- und Handlungsweisen, die in unterschiedlichen Kontexten ihre Ansichten wechselseitig aufnehmen können. Modern ausgedrückt ist Tara ein herausragend «inklusives» Bildwerk: für einen Buddhisten angefertigt am singhalesischsprachigen Hof in Sri Lanka, aber stilistisch doch Teil eines weiteren Umfelds, das die tamilsprachigen Höfe der Hindus in Südindien mit einschloss. Tatsächlich war Sri Lanka damals wie heute geteilt in Singhalesen und Tamilen, Hinduisten und Buddhisten, und es bestanden enge Verbindungen und reger Austausch durch Diplomatie, Heirat und häufig auch durch Krieg.
    Nira Wickramasinghe, Professorin für Geschichte und internationale Beziehungen an der Universität Leiden in den Niederlanden, erklärt uns, was dieses seit langer Zeit eingespielte Modell für die Region heutzutage bedeutet:
    «In vielerlei Hinsicht kann man von einer südindischen/sri-lankischen Region mit vielen kulturellen und politischen Berührungspunkten sprechen. Außerdem fand eine gegenseitige Beeinflussung in der Kunst, der Religion und der Technologie statt. Natürlich war das nicht immer eine friedliche Beziehung; es gab auch Invasionen und Kriege zwischen den südlichen Staaten Indiens und den

Weitere Kostenlose Bücher