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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Weltkulturerbe erklärt.
    Die anonymen Gesichter der jungen Mädchen und Männer von Samarra waren nie dazu bestimmt gewesen, von anderen Personen als den Vertrauten eines Kalifen betrachtet zu werden. Sie haben sich als ein seltenes Zeugnis der Bevölkerung im Zeitalter der Abbasiden erhalten und sind nun übriggeblieben, um uns anzusehen, wie wir sie ansehen. Paradox und vor allem wunderbar ist, dass wir anstelle der Bilder der großen Kalifen, die Samarra erbauten, ihre Sklaven und Diener sehen – von den Trickfilm-Karikaturen Hollywoods wieder zurückgeholt in die ergreifende historische Realität.



53
Der Lothar-Kristall
    Bergkristall mit der Darstellung von Susanna und den beiden Alten,
vermutlich in Deutschland entstanden
855–869 n. Chr.
    Königliche Scheidungen bedeuten in der Regel politische Schwierigkeiten. Die ehelichen Probleme Heinrichs VIII. stürzten England in jahrzehntelangen religiösen Unfrieden, und als Eduard VIII. eine geschiedene Frau heiraten wollte, löste das eine konstitutionelle Krise aus, die ihn den Thron kostete. Dieses Objekt steht mit einem König in Verbindung, der mit seinen verspäteten Versuchen, sich von der Königin scheiden zu lassen, sein Königreich bewahren wollte. Das Scheitern dieser Versuche brachte ihn vermutlich um, und es führte mit Sicherheit zum Untergang nicht nur seiner Linie, sondern auch seines König reichs. Das Objekt, ein gravierter Bergkristall, verrät uns seinen Namen. Auf Lateinisch verfasst, lautet die Inschrift: «Lothar, König der Franken, bestimmte, dass ich gemacht wurde».
    Der Lothar-Kristall, auch bekannt als der Susanna-Kristall, besteht aus einer flachen Bergkristallscheibe von etwa 18 Zentimetern Durchmesser, und in diese eingraviert ist eine biblische (oder nach einigen Überlieferungen eine apokryphe) Legende in acht einzelnen Szenen, gleich einem Kristall-Comicstreifen. Die Geschichte trägt sich in Babylon zu, wo die schöne junge Susanna als Ehefrau eines reichen Kaufmanns lebt. Während sie im Garten ihres Mannes ein Bad nimmt, dringen zwei ältere Männer zu ihr ein und versuchen sie dazu zu nötigen, Sex mit ihnen zu haben. Sie ruft ihre Sklaven zur Hilfe, und die wütenden Alten behaupten, sie beim Ehebruch überrascht zu haben. Wir sehen dann, wie Susanna weggeführt wird, um einen nahezu sicheren Tod durch Steinigung zu finden, doch an dieser Stelle schreitet der brillante junge Prophet Daniel ein und ziehtdie Indizien für ihre Verurteilung in Zweifel. Getrennt voneinander stellt Daniel den beiden Alten eine prüfende Frage wie in einem klassischen Gerichtsdrama: unter was für einem Baum sie Susanna beim Sex beobachtet hätten? Die Männer geben widersprüchliche Antworten, ihre Geschichte wird als Lüge entlarvt, und sie sind es, die wegen Meineids zu Tode gesteinigt werden. In der letzten Szene wird Susanna für unschuldig erklärt und dankt Gott. Ich habe Lord Bingham, ehemals Lord Chief Justice und führendes Mitglied des Oberhauses in Rechtsfragen, gebeten, die Geschichte für uns aus der Perspektive eines Juristen zu beurteilen:
    «Daniel tat, was der Anwalt Rumpole in der Fernsehserie Rumpole von Old Bailey tun würde, wenn er glauben würde, im Kreuzverhör Zeugen vor sich zu haben, die ihm Lügen erzählen. Im wirklichen Leben hätte Daniel sich sehr glücklich schätzen können, wenn es ihm gelungen wäre, die Zeugen auffliegen zu lassen und ihre Verlogenheit mit nur einer Frage an jeden zu entlarven, aber das Prinzip ist ganz klar, und Daniel war eindeutig geschickt beim Kreuzverhör.»
    Jede Szene auf dem Kristall ist ein Meisterwerk feinster Gravur, und in jeder Szene hat der Künstler auch Platz für einen kleinen lateinischen Text gefunden, der erzählt, was sich zuträgt. In der Schlussszene ist der klingende Satz zu lesen
Et salvatus est sanguis innoxius in die illa
– «Und an jenem Tag ward unschuldig Blut gerettet.» Es ist diese Szene, um die herum wir den Text finden, der König Lothar nennt.
    Der König, der den Susanna-Kristall in Auftrag gab, stammte von einer der großen Gestalten des mittelalterlichen Europa ab – von Karl dem Großen. Um das Jahr 800 hatte Karl der Große, König der Franken, ein Reich errichtet, das den größten Teil des westlichen Europas umfasste, Norditalien, Westdeutschland und das heutige Frankreich eingeschlossen. Das Reich Karls des Großen war das gewaltigste, das Westeuropa seit dem Fall von Rom erlebt hatte, und seine Stabilität und sein Wohlstand sorgten in den

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