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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Schlusslicht bildet schließlich ein wundervollesPaar baktrischer Kamele, jedes mit zwei Höckern, und beide werfen ihren Hals zurück, als seien sie im Begriff zu brüllen. Liu Tingxun brach mit prächtigem Gefolge in die nächste Welt auf. Die begleitenden Pferde und Kamele zeigen, dass Liu Tingxun wie erwartet sehr reich war, aber sie unterstreichen auch die engen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen Tang-Chinas zu Zentralasien und anderen Ländern entlang der Seidenstraße. Die hochgewachsenen, muskulösen Keramikpferde führen sehr wahrscheinlich eine neue wertvolle Zucht vor Augen, die aus dem Westen über eine der einstmals großen Handelsrouten der Welt nach China gelangt war. Und wenn Pferde der glamouröse Ertrag des Handelsverkehrs über die Seidenstraße waren, sozu sagen die Porsches und Bentleys, dann waren die beiden baktrischen Kamele die Lastkraftwagen, jedes dazu in der Lage, bis zu 120 Kilogramm hochwertiger Waren – Seide, Parfum, Medizin, Gewürze – über weite Strecken unwegsamen Terrains zu transportieren.
    Keramikfiguren wie diese, die ausschließlich dazu bestimmt waren, Beigaben für die Grabmäler der Reichen zu sein, entstanden um 700 n. Chr. über einen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren in großer Zahl. Sie wurden rings um die großen Städte der Tang-Dynastie im Nordwesten Chinas gefunden, wo Liu Tingxun amtierte. Damals glaubten die Chinesen, dass man im Grab alle Dinge bräuchte, die im Leben unentbehrlich sind. So waren die Figuren nur ein Teil der Schätze in Liu Tingxuns letzter Ruhestätte, die überdies kostbare Grabbeigaben aus Seide und Lack, Silber und Gold enthalten haben muss. Während die Statuen von Menschen und Tieren ihn bedienen und unterhalten sollten, wehrten die übernatürlichen Wächterfiguren böse Geister ab. In der kurzen Zeit, die zwischen ihrer Herstellung und ihrem Begräbnis lag, wurden sie den Lebenden nur ein einziges Mal während des Leichenzugs vorgeführt. Danach sollte man sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Einmal im Grab, nahmen sie ihre festgelegten Plätze um den Sarg herum ein, und dann wurde die steinerne Tür auf ewig fest verschlossen. Ein Tang-Dichter der Zeit, Zhang Yue, schrieb dazu:
    «Alle, die kommen und gehen, folgen diesem Weg,
    Aber die Lebenden und die Toten kehren nicht gemeinsam zurück.»
    Wie vieles andere im China des 8. Jahrhunderts wurde die Produktion solcher Keramikfiguren von einem öffentlichen Amt kontrolliert, und dieses war nur einwinziger Teil des enormen Verwaltungsapparats, der den Staat der Tang-Dynastie stützte. Liu Tingxun, der ein sehr hochrangiger Funktionär dieses Staates war, nahm zwei Keramikbeamte mit in sein Grab, vermutlich im Hinblick auf die Verwaltung in der Ewigkeit. Oliver Moore beschäftigte sich ausführlich mit dieser bürokratischen Elite, die so untrennbar verbunden war mit dem chinesischen Staat, dass wir betagte Beamte noch immer als Mandarine bezeichnen:
    «In der Verwaltung mischten sich alteingesessene Adelsfamilien und diejenigen, die wir als ‹neue Männer› bezeichnen könnten. Alle wurden verschiedenen Ministerien zugeteilt – es gab z.B. ein Ministerium für öffentliche Bauvorhaben, eines für Wirtschaft, eine Militärbehörde; und der größte Bereich von allen betraf die Riten. Dort organisierten die Beamten jährlich oder monatlich stattfindende Zeremonien, Festakte zum Geburtstag des Kaisers oder von Prinzen und Prinzessinnen, jahreszeitlich bedingte Feiern – Veranstaltungen wie das Pflüge-Ritual, bei dem der Kaiser die landwirtschaftliche Saison eröffnete, indem er symbolisch ein Feld irgendwo im Innern des Palastes pflügte. Es gab eine sehr kleine Gruppe von Menschen, deren Stellung sich unter der dynastischen Herrschaft verbesserte, da sie Prüfungen ablegten und sich um staatliche Ämter bewarben. Später wurde dieses System ausgebaut, so dass um das Jahr 1000 etwa 15.000 Männer zu einer solchen Prüfung in die Hauptstadt kamen, von denen am Ende jedoch nur 1500 ein Amt bekleideten. In diesem System fielen die meisten, wohl über 90 Prozent, durch – ihr Leben lang immer wieder –, und zugleich war dies ein System, das die Loyalität gegenüber der Dynastie stärkte – was wirklich bemerkenswert ist.»
    Liu Tingxun war ein treuer Diener der kaiserlichen Herrscherfamilie, und sein Grabensemble – Figuren, Tiere und Nachruf – spiegelt viele Aspekte der Blütezeit Tang-Chinas wider: die enge Verbindung zwischen Militär- und Zivilverwaltung, den geordneten

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