Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
formulierten wie ‹und doch ein Mann von ungewöhnlichem Charme› oder Ähnliches. Ich konnte nicht glauben, dass die Menschen das über sich selbst schrieben. Natürlich gibt heutzutage niemand seinen eigenen Nachruf in Auftrag, und jene, die mir zugesandt wurden, landeten immer direkt im Papierkorb.
Auf der Seite der Todesanzeigen der
Times
gab ich gern ein wenig an, indem ich erklärte: ‹Wir schreiben die erste Fassung der Geschichte unserer Generation›, und so sollte es meiner Meinung nach sein. Was wir schreiben, ist sicherlich nicht für die Familie oder gar die Freunde der Verstorbenen bestimmt.»
Die Nachrufe der Tang-Dynastie richteten sich ebenfalls nicht an Familie und Freunde; aber ebensowenig waren sie die erste Fassung der Geschichte ihrer Generation. Das erhoffte Publikum für den Nachruf von Liu Tingxun waren nicht irdische Leser, sondern die Richter der Unterwelt, die seine Stellung und seine Fähigkeiten würdigen und ihn mit einem ehrenvollen Platz unter den Toten belohnen sollten, wie es ihm gebührte.
Lius Grabschrift ist ein Muster an schillernder Selbstbeweihräucherung, und er will ein ganzes Stück höher hinaus als Anthony Howards «Mann von ungewöhnlichem Charme». Er erklärt uns, dass sein Verhalten Maßstäbe gesetzt hat und dazu bestimmt war, die Sitten des Volkes zu revolutionieren. Im öffentlichen Leben war er ein Musterbeispiel an «Mildtätigkeit, Gerechtigkeit, staatsmännischem Geschick, Bescheidenheit, Loyalität, Aufrichtigkeit und Rücksichtnahme», und seine militärischen Fähigkeiten waren mit denen der sagenumwobenen Heroen der Vergangenheit vergleichbar. Eine seiner großen Heldentaten, so versichert er uns, bestand darin, dass er einfallende Truppen in die Flucht schlug «wie ein Mann Fliegen von seiner Nase fegt».
Liu Tingxun verfolgte seine glänzende, wenn auch turbulente Karriere in der Blütezeit der Tang-Dynastie zwischen 618 und 906.Die Tang-Ära repräsentiert für viele Chinesen ein goldenes Zeitalter, das sowohl in der Heimat als auch im Ausland bedeutende Leistungen hervorbrachte, eine Zeit, zu der dieses große, über seine Grenzen hinausdrängende Kaiserreich gemeinsam mit dem islamischen Reich der Abbasiden im Mittleren Osten gewissermaßen einen riesigen Binnenmarkt für Luxusgüter erschuf, die von Marokko bis nach Japan vertrieben wurden. Sie werden es nicht in vielen Büchern über die europäische Geschichte geschrieben finden, aber diese beiden Riesen, das Reich der Tang-Dynastie und das der Abbasiden, prägten und beherrschten die Welt des frühen Mittelalters. Im Gegensatz dazu war Westeuropa im Jahre 728, als Liu Tingxun starb und unsere Grabfiguren entstanden, eine abgelegene, unterentwickelte Provinz, ein instabiler Flickenteppich aus kleinen Königreichen und gefährdeten urbanen Gemeinden. Die Tang-Dynastie regierte über einen einheitlichen Staat, der sich von Korea im Norden bis nach Vietnam im Süden und weiter westwärts, entlang der Seidenstraße, bis nach Zentralasien ausdehnte. Die Macht und die Struktur dieses Staates – und überdies sein enormes kulturelles Selbstbewusstsein – finden lebhaften Ausdruck in Liu Tingxuns tönernen Grabfiguren.
Eine prachtvolle lebhafte Truppe von Grabfiguren aus Keramik.
Die Figurengruppe besteht aus sechs Paaren, und sie alle sind mit nur drei Farben bemalt: Bernsteingelb, Grün und Braun. Es handelt sich um eine Prozession in Zweiergruppen. Vorn befinden sich zwei Monster, beeindruckende halb menschliche Wesen mit clownähnlichen Gesichtern, Stacheln auf den Köpfen, Flügeln und behuften Beinen. Als Hüter, die den Grabinsassen beschützen sollen, führen diese Fabelwesen die Reihe an. Hinter ihnen folgt ein anderes Paar schützender Begleiter, diesmal von ganz und gar menschlicher Gestalt, und ihre Erscheinung lässt deutlich indischen Einfluss erkennen. Die Nächsten in der Reihe sind zwei zurückhaltend und streng wirkende Bedienstete, zweifellos Chinesen, die mit höflich verschränkten Armen bereitstehen, um ihren besonderen Auftrag zu erfüllen, nämlich die Angelegenheit im Namen Liu Tingxuns den Richtern der Unterwelt zu unterbreiten. Die letzten menschlichen Figuren in dieser Prozession sind zwei kleine Reitknechte, die allerdings vollkommen überwältigt sind von den ihnen anvertrauten herrlichen Tieren, die sich anschließen. Zuerst zwei herrliche Pferde, fast einen Meter hoch, eines cremefarben mit gelben und grünen Flecken, das andere ganz und gar braun, und das
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