Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Wohlstand, der die Entstehung solch raffinierter künstlerischer Werke ermöglichte und kontrollierte, und das Selbstbewusstsein, mit dem Macht in der Heimat und über deren Grenzen hinaus ausgeübt wurde.
Teil XII
Pilger, Räuber und Händler
800–1300 n. Chr.
Das mittelalterliche Europa war nicht
von Afrika und Asien abgeschnitten: Krieger,
Pilger und Kaufleute durchreisten die Kontinente
regelmäßig, führten Waren mit sich und übermittelten neue
Ideen. Die skandinavischen Wikinger reisten und trieben Handel
von Grönland bis nach Zentralasien. Im Indischen Ozean verband
ein weitreichendes maritimes Netzwerk wirtschaftlicher Beziehungen
Afrika, den Mittleren Osten, Indien und China. Buddhismus und
Hinduismus verbreiteten sich entlang dieser Handelswege von Indien
nach Indonesien. Nicht einmal die Kreuzzüge verhinderten, dass der
Handel zwischen dem christlichen Europa und der islamischen Welt
blühte. Im Gegensatz dazu behauptete Japan, das am äußeren
Ende aller großen asiatischen Handelswege lag, sogar
gegenüber seinem Nachbarn China für die nächsten
300 Jahre seine wirtschaftliche Unabhängigkeit.
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Der Depotfund von Harrogate
Wikinger-Objekte, gefunden bei Harrogate, England
Vergraben um 927 n. Chr.
An der Oberfläche sieht alles idyllisch aus: ein weites grünes Feld in Yorkshire, in der Ferne sanft geschwungene Hügel, Wald und ein leichter Morgennebel. Es wirkt wie der Inbegriff eines ewig friedvollen England, aber wenn man an der Oberfläche kratzt oder, besser gesagt, diese mit einem Metalldetektor absucht, dann kommt ein anderes England zum Vorschein, ein Land, in dem Gewalt und Panik regierten und das durch den Schutz des Meeres keineswegs sicher war, sondern erschreckend angreifbar. In einem solchen Feld vergrub ein Mann 1100 Jahre vor unserer Zeit in seiner Angst eine große Sammlung von Silber, Juwelen und Münzen, die jene Region Englands mit damals unvorstellbar weit entfernten Teilen der Welt – mit Russland, dem Mittleren Osten und Asien – verband. Der Mann war ein Wikinger, und dies war sein Schatz.
Mit den nächsten fünf Objekten durchqueren wir die riesigen Gebiete, über die sich Europa und Asien vom 9. bis zum 14. Jahrhundert erstreckten. Wir werden uns entlang zweier großer Handelsrouten bewegen – eine davon beginnt im Irak und in Afghanistan, führt in nördlicher Richtung nach Russland und endet in Großbritannien, die andere befindet sich im Süden und schlägt eine Brücke über den Indischen Ozean von Indonesien nach Afrika.
Wenn man von «Händlern und Räubern» spricht, kommt einem vor allem ein Volk in den Sinn: die Wikinger. Sie haben die Vorstellungskraft der Europäer seit jeher beschäftigt, und ihr Ruf war heftigen Schwankungen ausgesetzt. Im 19. Jahrhundert hielten die Briten sie für wilde Bösewichte – Vergewaltiger und Plünderer mit gehörnten Helmen. Die Skandinavier sahen das freilich anders: Für sie waren die Wikinger die heldenhaften, unaufhaltsamen Erobererder nordischen Legenden. Von den Historikern wurden sie zeitweise als recht zivilisiert betrachtet – eher als Händler und Reisende, weniger als Plünderer. Die noch nicht lang zurückliegende Entdeckung des Depotfunds von Harrogate lässt sie weniger harmlos erscheinen und macht die angriffslustigen Wikinger der gängigen Überlieferung wieder lebendig, diesmal aber mit einer Prise kosmopolitem Glamour. Die Wahrheit ist, dass es bei den Wikingern schon immer darum ging: um funkelndes Metall und Gewalt.
Im frühen 10. Jahrhundert war England aufgeteilt zwischen den Wikingern, die den größten Teil des Nordens und den Osten besetzt hatten, und dem großen angelsächsischen Königreich Wessex im Süden und Westen des Landes. Die Rückeroberung der Wikingergebiete durch die Angelsachsen war für Großbritannien das bedeutendste Ereignis des 10. Jahrhunderts, und unser Schatz gibt zum einen genaue Auskunft über einen kleinen Teil dieses nationalen Epos, zum anderen verknüpft er es aber mit der weiten Welt des Wikingerhandels.
Der Schatz wurde im Winter des Jahres 2007 gefunden, als David Whelan und sein Sohn Andrew mit einem Metalldetektor ein Feld südlich von Harrogate in North Yorkshire absuchten.
Der Schatz, den sie hoben, befand sich in einem schön gearbeiteten Silbergefäß, das etwa die Größe einer kleinen Melone hatte. Erstaunlicherweise enthielt es mehr als 600 Münzen, alle aus Silber und von ungefähr demselben Durchmesser wie ein modernes Ein-Pfund-Stück, aber
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