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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Bauern sind die einzigen Spielsteine, die keine menschlichen Züge aufweisen; es sind einfach kleine Elfenbeinplättchen, die aufrecht stehen wie Grabsteine. In der mittelalterlichen Gesellschaft repräsentieren sie die ohne Umschweife für die Schlacht eingezogene Landbevölkerung. Alle Gesellschaften neigen dazu, sich die Menschen, die in der Hierarchie ganz unten stehen, als austauschbar und identisch vorzustellen, und so weisen die Fußsoldaten hier keinerlei Individualität auf.
    Die wichtigsten Figuren hingegen tragen stark persönliche Züge: Leibwächter, Ritter zu Pferd, gebieterische Könige und versonnene Königinnen. Der Ehrenplatz gehört der höchsten Quelle der legitimen Macht: dem König – wenn er geschlagen wird, endet der ganze Kampf. Alle Lewis-Könige sitzen auf verzierten Thronen, ein Schwert über den Knien. Um den König zu beschützen gibt es zweiArten von speziellen Kriegern. Eine erscheint uns sofort vertraut – der Ritter, schnell, wendig und auf einem Pferderücken sitzend. Seit den frühesten Anfängen des Schachspiels in Indien hat sich der berittene Krieger erhalten: Es gibt ihn in jedem Jahrhundert und in jedem Land, und er blieb bis heute weitestgehend unverändert. Aber diese gewohnten Ritter werden von etwas sehr viel Unheimlicherem flankiert. An den Ecken des Spielbretts, bei uns heute die Position der Türme, haben die ultimativen Stoßtruppen der skandinavischen Welt ihren Platz. Sie stehen bedrohlich da. Einige von ihnen sind dabei, sich in einen gierigen Blutrausch zu versetzen, indem sie die Oberkanten ihrer Schilde mit den Zähnen bearbeiten.
    Diese Kämpfer nannte man
Berserker
.
Berserker
ist ein isländisches Wort für einen Soldaten, der ein Hemd aus Bärenfell trägt, und der Ausdruck «Berserker» ist auch heute noch gleichbedeutend mit wilder, zerstörerischer Gewalt. Mehr als jede andere Spielfigur auf diesem Brett entführen uns die Berserker in die furchteinflößende Welt der norwegischen Kriegführung.
    Um 1200 lag die Isle of Lewis, ganz im Nordwesten des heutigen Schottlands, im Innersten dieser altnordischen Welt. Sie war Teil des Königreichs Norwegen. Man sprach dort Norwegisch, und ihr Erzbischof hatte seine Kathedrale in Trondheim, 250 Meilen nördlich von Oslo. Trondheim war eines der großen Zentren für die Schnitzerei aus Walross-Stoßzähnen, und die Lewis-Schachfiguren sind den Stücken, die dort gefertigt wurden, stilistisch sehr nah. Wir wissen, dass ähnliche Schachfiguren auch in Irland gefunden wurden, und Lewis war ein Stützpunkt auf dem frequentierten Seeweg zwischen Trondheim und Dublin. Die Mittelalterhistorikerin Professor Miri Rubin führt das näher aus:
    «Ich glaube, dass sie aus Norwegen kommen und vermutlich irgendwo um Trondheim herum entstanden sind. Sie sehen vielem, das hier gefertigt wurde, sehr ähnlich. Aber wenn wir uns bewusst machen, dass Großbritannien mit der mittel- und südeuropäischen Sphäre nicht so gut vernetzt war wie heute, dass aber stattdessen die Nordsee als eine Art Bindeglied zwischen den Gebieten vermittelte, dann tritt diese ganze Nordseeregion in den Vordergrund – von dort kamen die Wikinger, und von dort kamen auch die Vorläufer der Normannen, die letztendlich England eroberten. Wenn wir diese Ausgangslage also als eine Art Commonwealth betrachten, ein nördliches Commonwealth, das reich wurde, weil es solche erstaunlichen Rohstoffe wie Holz und Bernstein und Pelzund Metall besaß, dann können wir uns besser vorstellen, wie etwas, das in Norwegen hergestellt wurde, schließlich an Schottlands Westküste landen konnte.»
    Die Lewis-Schachfiguren wurden 1831 in der Bucht von Uig auf Lewis in einer kleinen Steinkammer, verborgen in einer Sandbank, gefunden. Die wahrscheinlichste Erklärung für diesen Aufbewahrungsort ist, dass ein Kaufmann sie dort versteckte, um sie in Sicherheit zu bringen und sie später selbst auf Lewis zu verkaufen. Ein Gedicht aus dem 13. Jahrhundert nennt zum Beispiel einen mächtigen Mann namens Angus Mór of Islay als König von Lewis, der, wie es heißt, die elfenbeinernen Schachfiguren seines Vaters erbt:
    «Dir hinterließ er seine Stellung, Dein ist sein Brustharnisch, all seine Schätze … seine schlanken Schwerter, seine Schachfiguren aus braunem Elfenbein.»
    Durch das Schachspiel demonstrierte ein Herrscher wie Angus Mór, dass er, wenngleich sich sein Machtbereich an der äußersten Kante des Kontinents erstreckte, gleichwohl Teil einer elitären Hochkultur war,

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