Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
die alle europäischen Höfe umspannte. Und die Figur auf dem Brett, die diese europäischen Höfe mehr als alle anderen repräsentiert, ist die Königin.
Anders als in der islamischen Gesellschaft, wo die Frauen des Herrschers üblicherweise vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen blieben, kam einer Königin in Europa eine öffentliche Rolle und die hohe Stellung der Beraterin des Königs zu. In Europa konnten Land und Macht manchmal über die weibliche Linie weitergegeben werden. Während also der König auf dem islamischen Schachbrett von seinem männlichen Berater, dem Wesir, begleitet wird, steht der König auf dem europäischen Brett neben seiner Dame. Die Königinnen der Lewis-Schachfiguren sitzen alle da und starren, ihr Kinn auf die rechte Hand gestützt, in die Ferne – so erweckten sie bei ihren Zeitgenossen offenbar den Eindruck, als würden sie permanent angestrengt nachdenken, um weisen Ratschluss zu erteilen. Auf uns hingegen wirken sie seltsam verdrießlich.
Vielleicht gab es aber auch etwas, das diese Königinnen verdrießlich stimmte. Im mittelalterlichen Schach hatte die Dame tatsächlich nicht viel Macht – sie konnte jeweils nur einen diagonalen Zug machen. Ihre moderne Schwester hingegen ist die stärkste Figur auf dem Brett. Abgesehen von der Dame hat sich seitdem Mittelalter im Schach erstaunlich wenig verändert, am allerwenigsten die eindrucksvolle Mathematik aller möglichen Züge. Dieses im Sitzen stattfindende Spiel des Geistes hat immer schon leidenschaftliche Emotionen hervorgerufen. Der Schriftsteller Martin Amis ist seit langem fasziniert von beiden Aspekten:
«Die Mathematik des Schachspielens ist sehr interessant, denn nachdem jeder vier Züge gemacht hat, gehen die Möglichkeiten schon in die Billionen. Es ist das höchste der Brettspiele. Ganz gelegentlich kommt man auf einen Zug, den ein großer Spieler schon die ganze Zeit gesehen hätte; und plötzlich sieht das Brett ungeheuer reich aus – es scheint vor Möglichkeiten überzuquellen. Und Kampfgeist ist es, den man allen großen Spielern anmerkt – sie haben alle den Killerinstinkt.»
Manchmal ist es buchstäblich der Killerinstinkt: Aus Aufzeichnungen des englischen Hofes von 1279 geht hervor, dass bei einem Schachspiel ein David de Bristol gegen eine gewisse Juliana le Cordwaner antrat und dass beide so heftig in Streit gerieten, dass er sein Schwert in ihren Schenkel stieß, woraufhin sie sofort starb.
Eine Spielfigur habe ich noch nicht erwähnt, aber sie ist vielleicht die faszinierendste von allen Lewis-Schachfiguren, denn sie gewährt einen wesentlichen Einblick in die Gesellschaft, für die sie gemacht wurde. Es ist der Bischof (Läufer), der im mittelalterlichen Europa einer der großen Machthaber des Staates war, weil er nicht nur das geistige Leben beherrschte, sondern auch Land und Leute befehligte. Der Erzbischof von Trondheim war auf Lewis wirklich mächtig. Die Bischöfe der Lewis-Schachfiguren sind die ältesten, die es gibt. Eindrucksvoll erinnern sie daran, dass die Kirche in ganz Europa wesentlicher Teil der staatlichen Kriegsmaschinerie war. Die Geschichte der Kreuzzüge ins Heilige Land und die Rolle, die die Kirche darin spielte, sind altbekannt, aber zur selben Zeit gab es im Norden einen Kreuzzug, der von den Deutschordensrittern geführt wurde und der Teile des östlichen Europa eroberte und christianisierte; im Süden indessen konnten durch den Einfluss der Bischöfe Kastilien und Zentralspanien von ihren islamischen Herrschern befreit und für das Christentum zurückerobert werden.
Aus diesem Spanien, erneut christianisiert, aber mit muslimischen und jüdischen Einwohnern, stammt das nächste Objekt – das vielseitig einsetzbare, multifunktionale Smartphone seiner Zeit, das Astrolabium.
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Hebräisches Astrolabium
Astrolabium aus Messing, vermutlich aus Spanien
1345–1355 n. Chr.
Dieses kostbare runde Messinginstrument, das ein wenig wie eine große Taschenuhr aussieht, ist ein tragbares Modell der Himmelssphären. Es handelt sich um ein Astrolabium, und mit ihm in Händen kann ich die Uhrzeit bestimmen, Landvermessungen vornehmen oder meinen Standpunkt in der Welt anhand von Sonne und Sternen ausmachen und, wenn ich genügend Informationen habe, Ihr Horoskop erstellen.
Obwohl bereits die alten Griechen mit dem Astrolabium umgehen konnten, war dieses Instrument vor allem für die islamische Welt von Bedeutung, denn es ermöglichte den Gläubigen, die Richtung, in der Mekka lag,
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