Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
unter. Auch wenn das mittelalterliche Spanien heutzutage von Politikern oft als Wegweiser zur Toleranz und als Modell für multireligiöses Zusammenleben gepriesen wird, ist die historische Wahrheit deutlich weniger bequem. Dazu noch einmal John Elliott:
«Was die tatsächliche religiöse Toleranz angeht, so ist sie viel weniger eindeutig zu definieren als die Koexistenz … Das Christentum war generell eine ziemlich intolerante Gesellschaft, die Andersgläubigen jeglicher Art sehr feindlich gesonnen war, und diese Intoleranz richtete sich vor allem gegen die Juden. England etwa vertrieb seine Juden 1290, und Frankreich tat mehr als zehn Jahre später das gleiche, und was die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen anging, verhärteten sich die religiösen Fronten ab dem 12. Jahrhundert. Die Christen predigten die Kreuzzüge, während die Almohaden, die von Nordafrika aus nach Spanien zogen, den Jihad ausriefen, und so mehrte sich auf beiden Seiten die Aggressivität.»
Vor diesem Hintergrund erschien das christliche Spanien noch verhältnismäßig tolerant. Aber es gab bereits Anzeichen von Schwierigkeiten, und der Fortbestand des muslimischen Granada gemahnte an eine Angelegenheit, die noch zu erledigen war. Die geistige Allianz von Christen, Juden und Muslimen sollte schon bald von einer militanten spanischen Monarchie fortgeschwemmt werden, in der Absicht, dem übrigen Europa nachzueifern und die christliche Vorherrschaft zu behaupten. In den Jahren um 1500 wurden Juden und Muslime verfolgt und aus Spanien vertrieben. Die c
onvivencia
hatte ihr Ende gefunden.
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Kopf aus Ife
Messingstatue, aus Nigeria
1400–1500 n. Chr.
Bisher sind uns in dieser Geschichte der Welt anhand von Objekten alle möglichen Dinge begegnet, alle sind beredt, aber viele von ihnen sind weder schön noch wertvoll. Dieses Objekt jedoch, ein in Messing gegossener Kopf, ist ohne jeden Zweifel ein großes Kunstwerk. Es handelt sich ziemlich eindeutig um das Porträt einer Person – wir wissen jedoch nicht, wer diese war; es wurde ohne Frage von einem ganz großartigen Künstler geschaffen – wir wissen aber nicht, von wem; und es muss für eine Zeremonie bestimmt gewesen sein – allerdings wissen wir nicht, was für eine das gewesen ist. Was wir wissen, ist, dass der Kopf aus Afrika stammt, dass er einen König zeigt, und dass er die großen mittelalterlichen Kulturen Westafrikas vor etwa 600 Jahren verkörpert. Er gehört zu einer Gruppe von dreizehn meisterhaft in Messing gegossenen Köpfen. Sie alle wurden 1938 auf dem Gelände eines königlichen Palastes in Ife, Nigeria, entdeckt und versetzten die Welt mit ihrer Schönheit in Erstaunen. Sie wurden sofort als herausragende Zeugnisse einer Kultur erkannt, von der es keine schriftlichen Aufzeichnungen mehr gibt, und in ihnen offenbart sich die Geschichte eines der höchstentwickelten und urbanisiertesten afrikanischen Königreiche der Zeit. Die Skulpturen aus Ife warfen den europäischen Begriff der Kunstgeschichte vollkommen über den Haufen, und sie zwangen die Europäer dazu, die Stellung Afrikas in der Kulturgeschichte der Welt neu zu überdenken. Heute spielen sie eine bedeutende Rolle für die Art und Weise, in der die Afrikaner selbst ihre Geschichte lesen.
Der Ife-Kopf befindet sich in der Afrika-Abteilung des Museums, wo er die Besucher zu betrachten scheint. Er ist nicht ganz lebensgroß und besteht ausMessing, das über die Jahrhunderte nachgedunkelt ist. Über das elegant geformte ovale Gesicht ziehen sich fein eingekerbte vertikale Linien – aber diese Narben laufen so symmetrisch, dass sie die Gesichtszüge eher unterstreichen als zerstören. Er trägt eine Krone, ein reich verziertes Diadem mit einer auffallenden Feder, die über dem Scheitel aufragt und noch ziemlich viel von ihrer originalen roten Farbe behalten hat. Dieses Objekt besticht durch seine außergewöhnliche Präsenz. Der wache Blick, die hohen Wangenknochen, die wie zum Sprechen geöffneten Lippen – all das ist absolut naturgetreu eingefangen. Man braucht viel Übung und muss sehr genau hinsehen, bis man in der Lage ist, die Beschaffenheit eines solchen Gesichts zu begreifen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass hier eine reale Person dargestellt ist. Jedoch wurde die Wirklichkeit nicht nur wiedergegeben, sondern verwandelt. Die Details des Gesichts wurden verallgemeinert und abstrahiert, um einen Eindruck von erhabener Ruhe zu erzeugen. Wenn ich dieser Messingskulptur von Angesicht zu Angesicht
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