Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
verstanden.
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Speerspitze der Clovis-Kultur
Steinerne Speerspitze, gefunden in Arizona, USA
11.000 v. Chr.
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich inmitten einer grünen, von Bäumen und Büschen bestandenen Landschaft. Sie gehören zu einer Gruppe von Jägern, die sich leise an eine Mammutherde heranpirschen. Eines der Mammuts, so hoffen Sie, wird Ihr Abendessen sein. Sie umklammern einen leichten Speer mit einem scharfen, spitzen Stein am vorderen Ende. Sie schleichen näher heran, schleudern den Speer – und verfehlen Ihr Ziel. Das Mammut, das Sie erlegen wollten, zerstampft den Schaft unter seinen Hufen. Dieser Speer ist jetzt nicht mehr zu gebrauchen. Sie nehmen einen anderen und ziehen weiter – und hinterlassen auf dem Boden nicht nur ein Mordwerkzeug, das seinen Zweck nicht erfüllt hat, sondern ein Objekt, das zu einer Botschaft quer durch die Zeit wird. Tausende von Jahren nachdem das Mammut ihren Speer zertreten hat, werden Menschen diese steinerne Speerspitze finden und wissen, dass Sie hier waren.
Weggeworfene oder verlorengegangene Dinge erzählen uns ebenso viel über die Vergangenheit wie diejenigen, die sorgfältig aufbewahrt wurden für die Nachwelt. Ganz profane Alltagsgegenstände, die vor langer Zeit einfach weggeworfen wurden, können die wichtigsten Geschichten über die Menschheitsgeschichte erzählen – in diesem Fall die Geschichte, wie die modernen Menschen die Welt eroberten und wie sie, nachdem sie Afrika, Asien, Australien und Europa bevölkert hatten, schließlich auch nach Amerika gelangten.
Dieses kleine Objekt ist das funktionale Ende einer tödlichen Waffe. Es ist aus Stein gemacht und wurde vor über 13.000 Jahren von einer Person wie Sie und ich, von einem modernen Menschen, in Arizona verloren. Es befindet sich in der Nordamerika-Abteilung des Britischen Museums, mitten unter den prächtigenFederschmuck-Exponaten, in einem Schaukasten neben den Totempfählen. Die Speerspitze besteht aus Feuerstein; sie hat in etwa die Größe eines kleinen, schlanken Handys und die Form eines langen, dünnen Blattes. Sie ist noch immer intakt und nach wie vor sehr scharf. Auf beiden Seiten weist die Oberfläche wundervolle Riffeln auf. Betrachtet man das Objekt aus der Nähe, erkennt man, dass es sich dabei um die bei der Herstellung entstandenen Schrammen handelt, wo die Steinsplitter sorgfältig abgeschlagen wurden. Es fühlt sich großartig an, diese Pfeilspitze zu berühren und darüberzustreichen, und sie eignet sich ausgezeichnet für ihren todbringenden Zweck.
Das vielleicht Überraschendste an diesem Objekt ist die Tatsache, dass es in Amerika gefunden wurde. Der moderne Mensch hat seinen Ursprung in Afrika, und im Verlauf unserer Geschichte waren wir die meiste Zeit auf Afrika, Asien und Europa beschränkt, die alle über den Landweg miteinander verbunden sind. Wie also kamen die Menschen, die Speere wie diesen anfertigten, nach Amerika und wer waren sie?
Speerspitzen wie diese sind keineswegs selten; Tausende davon hat man in Nordamerika gefunden, und sie sind bisher der aussagekräftigste Hinweis auf die ersten Menschen, die auf dem Kontinent lebten. Sie heißen Clovis-Spitzen, benannt nach der Kleinstadt im US-Bundesstaat New Mexico, wo man sie zusammen mit den Knochen der damit getöteten Tiere 1936 erstmals entdeckt hat. Diejenigen, die diese steinernen Pfeilspitzen herstellten und damit jagten, werden entsprechend als Clovis-Volk bezeichnet.
Der Fund von Clovis bedeutete einen sagenhaften Fortschritt in unserem Wissen um die Frühgeschichte Amerikas. Fast identische Clovis-Spitzen hat man in Clustern von Alaska bis Mexiko und von Kalifornien bis Florida gefunden. Sie belegen, dass diese Menschen vor rund 13.000 Jahren, als die letzte Eiszeit zu Ende ging, in der Lage waren, auf einem derart riesigen Gebiet kleine Gemeinschaften zu gründen.
Waren die Clovis-Menschen die ersten Amerikaner? Professor Gary Haynes, einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, glaubt, dass einiges dafür spricht:
«Es gibt vereinzelte Hinweise darauf, dass es schon, bevor diese Clovis-Spitzen hergestellt wurden, Menschen in Nordamerika gab, aber das lässt sich mit gutenGründen bezweifeln. Es sieht so aus, als seien die Clovis tatsächlich die ersten Menschen hier gewesen. Gräbt man irgendwo in Nordamerika an einer archäologischen Stätte, sind die untersten Schichten rund 13.000 Jahre alt, und wenn sich irgendwelche Artefakte finden, stammen sie von den Clovis oder einer
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