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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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nicht genügend betonen, wie tiefgreifend diese Entdeckung Vorurteile und Hierarchien umkrempelte. Auf einer Stufe mit Griechenland und Rom, Florenz und Paris stand nun Nigeria. Wenn Sie nach einem Beispiel dafür suchen, wie Dinge Gedanken ändern können, dann ist die Wirkung der Ife-Köpfe 1939 das Beste, das Sie finden werden.
    Jüngste Forschungen deuten darauf hin, dass die uns bekannten Köpfe alle innerhalb eines ziemlich kurzen Zeitraums entstanden sind, möglicherweise um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt war Ife bereits seit Jahrhunderten ein führendes politisches, ökonomisches und geistiges Zentrum. Die Welt dort war geprägt durch Waldbau, der von den Städten, die sich im Gebiet westlich des Nigers erstreckten, bestimmt wurde. Und über ein Geflecht von Flusswegen war Ife mit den regionalen Handelsnetzwerken Westafrikas und den großen Karawanenrouten verbunden, über die Elfenbein und Gold auf Kamelen durch die Sahara an die Mittelmeerküste transportiert wurden. Dafür kamen von dort die Metalle, aus denen die Ife-Köpfe gemacht wurden. Der Mittelmeerwelt entstammten nicht, wie Frobenius vermutete, die Künstler, sondern lediglich die Rohstoffe.
    Die Macht über die Waldstädte hatte ihr ranghöchster Herrscher, der Ooni von Ife. Die Rolle des Ooni war nicht nur eine politische – er hatte auch eine ganze Reihe von geistigen und rituellen Pflichten, und die Stadt Ife war stets das führende religiöse Zentrum des Yoruba-Volkes gewesen. Noch heute gibt es dort einen Ooni. Er besitzt einen hohen zeremoniellen Status und große moralische Autorität, und sein Kopfschmuck erinnert noch immer an den skulptierten Kopf, der vor 600 Jahren entstand.
    Unser Kopf ist nahezu sicher das Porträt eines Ooni, aber es ist überhauptnicht geklärt, wozu ein solches Porträt gebraucht wurde. Es war sicherlich nicht dazu bestimmt, für sich allein zu stehen. Also war es womöglich auf einen hölzernen Körper montiert – im Nacken befindet sich ein Loch, das von einem Nagel stammen und zur Befestigung gedient haben könnte. Einigen Vermutungen zufolge wurde der Kopf zu Prozessionen herumgetragen, oder er könnte während bestimmter Zeremonien für einen abwesenden oder sogar toten Ooni gestanden haben.
    Um den Mund herum sieht man eine Reihe kleiner Löcher. Wieder können wir nicht ganz sicher sein, welchen Zweck diese einmal erfüllt haben, aber sie wurden möglicherweise genutzt, um einen perlenbesetzten Schleier anzuheften, der den Mund und den unteren Teil des Gesichts verbergen sollte. Wir wissen, dass der Ooni sein Gesicht zu einigen rituellen Anlässen noch heute komplett verhüllt – ein eindrückliches Zeichen für seinen überlegenen Status als erhabene Persönlichkeit, die sich von den anderen Menschen unterscheidet.
    In gewisser Hinsicht verkörpern die Ife-Skulpturen heute auch einen ganzen Kontinent – ein modernes, postkoloniales Afrika, das sich seiner uralten kulturellen Traditionen bewusst ist. Babatunde Lawal erklärt:
    «Heutzutage sind viele Afrikaner und im Besonderen Nigerianer stolz auf ihre Vergangenheit, eine Vergangenheit, die einst als derb und primitiv abgewertet wurde. Dann zu begreifen, dass ihre Vorfahren nicht so zurückgeblieben waren, wie sie dargestellt wurden, war für sie in doppelter Hinsicht ein Quell der Freude. Diese Entdeckung entfaltete in ihnen eine neue Art von Nationalbewusstsein, und sie begannen aufrecht zu gehen, in dem Gefühl, auf ihre Vergangenheit stolz sein zu können. Zeitgenössische Künstler lassen sich heute von dieser Vergangenheit inspirieren und schöpfen aus ihr Kraft für ihre Suche nach Identität im globalen Dorf, zu dem unsere Welt geworden ist.»
    Die Entdeckung der Ife-Kunst ist das Paradebeispiel eines weitverbreiteten kulturellen und politischen Phänomens: Mit der Entdeckung unserer Vergangenheit entdecken wir uns selbst – und noch mehr. Um zu werden, wer wir sein wollen, müssen wir entscheiden, was wir waren. Wie Individuen definieren sich Nationen und Staaten immer wieder neu, indem sie ihre Geschichte neu überdenken, und so sind die Skulpturen aus Ife heute Zeichen einer unverwechselbaren nationalen und regionalen Identität.



64
Die David-Vasen
    Porzellan, aus dem Yushan-Gebiet, China
1351 n. Chr.
    «In Xanadu schuf Kubla Khan
    Ein Lustschloss, stolz und kuppelschwer,
    Wo Alph, das heilige Wasser, floss,
    Durch unermessene Höhlen sich ergoss
    In sonnenloses Meer.»
    Die mitreißenden ersten Zeilen aus

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