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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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gegenüberstehe, dann weiß ich, dass ich mich in der Gesellschaft eines von der würdevollen Gelassenheit der Macht durchdrungenen Herrschers befinde. Wenn der in Nigeria geborene Autor Ben Okri den Ife-Kopf betrachtet, dann sieht er nicht nur einen Herrscher, sondern eine Gesellschaft und eine Kultur:
    «Er hat auf mich die Wirkung, die auch bestimmte Buddhaskulpturen haben. Wenn ein Kunstwerk Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt, dann zeugt das von einer großen inneren Kultur, denn ohne Nachdenken, ohne die großen Fragen über den eigenen Platz im Universum gestellt und bis zu einem gewissen Grad zufriedenstellend beantwortet zu haben, ist eine solche innere Ruhe nicht möglich. Das macht für mich die Kultur aus.»
    Dass sich die schwarzafrikanische Kultur auf einem so hohen Level befand, war für einen Europäer vor hundert Jahren ganz einfach unvorstellbar. Als der deutsche Anthropologe Leo Frobenius 1910 den ersten Messingkopf in einem Schrein vor der Stadt Ife fand, war er so überwältigt von seiner technischen und ästhetischen Vollendung, dass er ihn sofort mit der großartigsten Kunst assoziierte, die er kannte – mit der klassischen Skulptur des antiken Griechenland. Aber welche mögliche Verbindung konnte es zwischen dem antiken Griechenland und Nigeria gegeben haben? In der Literatur oder in der Altertumsforschung finden sich keine Berichte über eine solche Berührung. Für Frobenius gab es eine einleuchtendeund aufregende Lösung für dieses Rätsel: Die verschwundene Insel Atlantis musste vor der Küste von Nigeria versunken sein, und die überlebenden Griechen waren an Land gegangen, um diese staunenswerte Skulptur anzufertigen.
    Man macht sich leicht über Frobenius lustig, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Wissen der Europäer um die Traditionen afrikanischer Kunst sehr begrenzt. Für Maler wie Picasso, Nolde oder Matisse war die afrikanische Kunst dionysisch, überbordend und wild, instinktgeleitet und emotional. Aber die maßvollen, rationalen apollinischen Skulpturen aus Ife entstammten eindeutig einer geordneten, technologisch hochentwickelten Welt, die über geistliche Macht und höfische Hierarchien verfügte, einer Welt, die in jeder Hinsicht mit den historischen Gesellschaften Europas und Asiens vergleichbar war. Wie das bei allen großen künstlerischen Traditionen der Fall ist, offenbaren die Ife-Skulpturen eine bestimmte Vorstellung vom Menschsein. Babatunde Lawal, Professor für Kunstgeschichte an der Virginia Commonwealth University, erklärt:
    «Frobenius ging um 1910 davon aus, dass die Überlebenden der versunkenen griechischen Insel Atlantis diese Köpfe angefertigt haben könnten und, so prophezeite er, wenn man eine ganze Figur fände, dann würde diese die typisch griechischen Proportionen zeigen, nach denen der Kopf etwa ein Siebtel des ganzen Körpers ausmacht. Aber als in Ife schließlich eine ganze Figur gefunden wurde, war ihr Körper nur etwa viermal so groß wie der Kopf und entsprach so den typischen Proportionen, die die Afrikanische Kunst charakterisieren – die Betonung des Kopfes, weil er die Krone des Körpers und den Sitz der Seele darstellt und weil Identität, Wahrnehmung und Kommunikation sich dort formen.»
    In Anbetracht dieser traditionellen Gewichtung ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass es sich bei fast allen Metallskulpturen aus Ife, die wir kennen – und es sind nur etwa dreißig – um Köpfe handelt. Die Entdeckung von dreizehn solcher Köpfe im Jahre 1938 ließ keinen Zweifel mehr daran, dass sie einer ganz und gar afrikanischen Tradition angehörten. Die
Illustrated London News
vom 8. April 1939 berichtete über den Fund. In einem außergewöhnlichen Artikel, verfasst in der üblichen, für uns rassistisch klingenden Sprache der 1930er Jahre, erkannte der Autor an, dass das, was er die Neger-Tradition nennt – ein Wort, das damals mit Sklaverei und Primitivismus assoziiert wurde –, nun seinen Platz im Kanon derWeltkunst einnimmt. Das Wort «Neger» konnte von nun an nie mehr wie zuvor benutzt werden.
    «Man muss kein Liebhaber oder Experte sein, um die Schönheit ihrer Formen, ihre Männlichkeit, ihre ruhige Wahrhaftigkeit, ihre Würde und Einfachheit zu schätzen. Weder die griechische oder römische Bildhauerkunst zu ihren besten Zeiten, noch Cellini oder Houdon brachten jemals etwas hervor, das auf die Sinne anziehender wirkte oder den europäischen Vorstellungen von Proportionen unmittelbarer Genüge leistete.»
    Man kann

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