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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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die in einer monotheistischen Kultur verwurzelt sind. Hier drückt sich eine ganz bestimmte Sicht des Göttlichen aus. Ein monotheistischer Gott ist per definitionem allein – er kann nicht mit anderen Göttern interagieren, kann nicht Teil einer dynamischen sexuellen Beziehung sein –, und im Judentum, im Christentum und im Islam ist Gott nicht nur allein, sondern er war überdies auch stets männlich. Im Hinduismus ist das anders: Shiva braucht Parvati. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong schreibt:
    «In monotheistischen Religionen und ganz besonders im Christentum waren Themen wie Sexualität und Geschlechterrollen immer eine komplizierte Angelegenheit. Manche Religionen, die anfangs ein positives Frauenbild hatten, wie Christentum und Islam, wurden ein paar Generationen nach ihrer Gründung usurpiert und in die alten patriarchalischen Muster zurückgezwungen. Aber ich glaube, in der Art, wie Menschen Sexualität sehen, gibt es gewaltige Unterschiede. Wenn man Sexualität als göttlichen Aspekt betrachtet, als Möglichkeit, das Göttliche zu begreifen, dann muss sich das in irgendeiner Weise auswirken – man sieht das bei den Hochzeiten der Hindus, für die eine Eheschließung ein heiliges Ritual ist. Dass Sexualität und Geschlechterrollen schon immer die Achillesferse der christlichen Religion waren, macht deutlich, dass man es hier nicht geschafft hat, eine elementare Realität des Lebens einzubinden.»
    Es war die Großzügigkeit, mit der im Hinduismus sämtliche Aspekte des Lebens und nicht zuletzt die Sexualität einbezogen sind, die den Sammler unserer Skulptur fasziniert hat – Charles Stuart, Generalmajor in Diensten der Ostindiengesellschaft, der mit solcher Begeisterung für die Werte und Verdienste des Hinduismus eintrat, dass seine Landsleute ihn missbilligend mit dem Spitznamen «Hindoo Stuart» bedachten. Stuart bewunderte praktisch jeden Aspekt des indischen Lebens. Er beschäftigte sich eingehend mit indischen Sprachen und Religionen und ging sogar so weit, Engländerinnen aufzufordern, sie sollten sich gefälligst «vernünftig und sinnlich» kleiden und indische Saris tragen. Die Memsahibs lehnten dankend ab.
    Im Zuge seiner Beschäftigung mit den Kulturen Indiens trug Stuart eine große Skulpturensammlung – zu der auch unser Steinrelief gehört – zusammen, in der jede Gottheit mit mindestens einer bildlichen Darstellung vertreten sein sollte. Gedacht war die Sammlung als eine Art visuelle Enzyklopädie der Religionen und Bräuche. Der Öffentlichkeit präsentierte er die Werke in seinem Wohnhaus in Kalkutta. Es war einer der ersten Versuche überhaupt, ein europäisches Publikum in systematischer Weise an die indische Kultur heranzuführen. Stuart, der den Hinduismus keineswegs als irritierend empfand, sondern darin ein Lebenskonzept sah, das der christlichen Moral zumindest ebenbürtig war, schrieb in seiner 1808 veröffentlichten Streitschrift
Vindication of the Hindoos
:
    «Wohin ich meinen Blick im gewaltigen Ozean der hinduistischen Mythologie wende, entdecke ich Frömmigkeit … Sittlichkeit … und soweit ich mich auf mein Urteilsvermögen verlassen kann, ist es das System mit dem umfassendsten und weitreichendsten moralischen Allegorienkanon, das je irgendwo in der Welt hervorgebracht wurde.»
    Stuart lehnte jeden christlichen Versuch, Hindus zu missionieren, vehement ab. Er fand solches Bemühen schlichtweg unverschämt, und seiner Vorstellung nach sollte die Präsentation seiner Sammlung in England dazu beitragen, das Ansehen dieser großen Weltreligion in den Augen seiner Landsleute zu mehren. Stuart wäre mit Sicherheit erfreut, dass seine Shiva-und-Parvati-Skulptur, die um 1300 geschaffen wurde, um Tempelbesucher in Orissa willkommen zu heißen, fast zwei Jahrhunderte nach seinem Tod immer noch für die Öffentlichkeit zugänglich ist – und er wäre begeistert zu sehen, dass viele, die sich die Skulptur im Museum ansehen, britische Hindus sind.
    Auch wenn man in britischen Schulen heute mehr über den Hinduismus erfährt als in früheren Zeiten, fällt es manchen von uns, die nicht im hinduistischen Glauben erzogen wurden, schwer, diese komplexe Religion zu begreifen, in der es so viele Gottheiten in so mannigfaltigen Erscheinungsformen gibt. Doch wer vor unserer Skulptur steht, dem offenbart sich im Allgemeinen auf Anhieb ein zentraler Aspekt dieser großen Glaubensrichtung: dass man Gott nämlich besser nicht als einen einzelnen, für sich stehenden Geist,

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