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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Worte darunter sind auf Türkisch geschrieben und verkünden seine Rolle als Sultan, als Herrscher über das Osmanische Reich. Arabisch für das Geistige, Türkisch für das Welt liche. Türkisch war sicherlich die Sprache des Beamten, an den sich dieses Schreiben richtete. Angesichts der opulenten künstlerischen Ausgestaltung dieser Tughra muss der Empfänger sehr bedeutend gewesen sein, also möglicherweise ein Gouverneur, ein General, ein Diplomat oder vielleicht ein Mitglied des Herrscherhauses; und sie hätte in jeden Teil des rasch anwachsenden Reiches Suleimans gesandt werden können, wie die Historikerin Caroline Finkel erklärt:
    «Er warf das Reich der Mameluken nieder, also Ägypten und Syrien mit seiner gesamten arabischen Bevölkerung, ebenso den Hejaz (im Südwesten Saudi-Arabiens) mit seinen heiligen Stätten, die von höchster Bedeutung waren, und all diese Menschen waren nun auf Gedeih und Verderb osmanische Untertanen. Suleimans Tughra gelangte bis zur persischen Küste, wo der große Rivale im Osten, das Reich der Safawiden, die Osmanen noch immer herauszufordern suchte; die Tughra gelangte auch bis nach Nordafrika, wo osmanische Schiffsexpeditionen große Erfolge gegen die spanischen Habsburger im westlichen Mittelmeer verzeichneten; und sie gelangte bis nach oben zu den tieferen Ausläufern des heutigen Russland.»
    Suleimans Osmanisches Reich beherrschte den gesamten Küstenstreifen des östlichen Mittelmeeres, von Tunis bis fast nach Triest. Nach 800 Jahren war der östliche Teil des Römischen Reiches wieder neu errichtet worden, nun aber als muslimisches Imperium. Dieser riesige neue Staat war es, der die Westeuropäer zwang, andere Wege außerhalb des Mittelmeers über den Atlantik zu suchen, wenn sie den Osten bereisen oder Handel treiben wollten. Aber dies sei einem späteren Kapitel vorbehalten.
    Die meisten offiziellen Dokumente gehen verloren, werden zerstört oder weggeworfen. Unsere Führerscheine oder Steuerbescheide überleben im Todesfall für gewöhnlich nicht. Ebenso ist der riesige Berg an offiziellen Schriftstücken des Osmanischen Reiches für uns verloren. Ein amtliches Dokument wird am ehesten aufgehoben wenn es mit Grund und Boden zu tun hat, da die nachfolgenden Generationen wissen müssen, wer als Eigentümer über das Land zu bestimmen hat. Die plausibelste Annahme ist also, dass unsere Tughra den Kopf eines Dokuments bildete, das die Gewähr für ein bedeutenderes Stück Land war, dass sie also das Eigentumsrecht über eine sehr große Grundfläche verlieh oder bestätigte. Das würde erklären, warum das Dokument lange genug überlebte, um, vermutlich im 19. Jahrhundert, einem Sammler in die Hände zu fallen, der die Tughra abschnitt und als separates Kunstwerk verkaufte.
    Und sie ist mit Sicherheit ein Kunstwerk. Zwischen den kobaltblauen, mit Blattgold belebten Linien winden sich großartige Schlingen, die wild rankende Blumenfelder aus wirbelndem Lotus und Granatapfel, aus Tulpen, Rosen und Hyazinthen umschließen. Das ist prächtige islamische Dekorationskunst, die sich an natürlichen Formen erfreut, während sie es vermeidet, den menschlichenKörper zu zeigen. Es ist ebenso eine virtuose Demonstration von Kalligraphie, von reiner Kunstfertigkeit und der Freude am Schreiben. Wie ihre Vorfahren und Zeitgenossen in der islamischen Welt, hegten die osmanischen Türken große Wertschätzung gegenüber der Schriftkunst. Gottes Wort musste mit aller der Heiligkeit gebührenden Schönheit niedergeschrieben werden. Kalligraphen waren bedeutende Amtsinhaber, die Teil des türkischen Gerichtshofes, des
Divans
, waren, nach dem die offizielle Schrift des Osmanischen Reiches, bekannt als «Divani», benannt ist. Die Kalligraphen entwickelten schöne und extrem komplizierte Formen dieser Schrift. Sie ist, wie man weiß, schwierig zu lesen, und sie ist mit Absicht so entworfen, um zu verhindern, dass zusätzliche Worte in den Text eingefügt oder offizielle Dokumente gefälscht werden. Die Kalligraphen waren gleichermaßen Künstler und Bürokraten, die oft Dynastien von Kunsthandwerkern angehörten und ihre Fertigkeiten von einer Generation zur nächsten weitergaben. In der islamischen Welt ist Bürokratismus also oftmals hohe Kunst.
    Moderne Politiker kündigen stolz ihr Bestreben an, die Bürokratie auszutreiben. Das zeitgenössische Vorurteil ist, dass sie die Dinge verlangsamt und hemmt; aus historischer Perspektive gesehen ist es aber die Bürokratie, die über

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