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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Berghänge mit den berühmten Terrassenfeldern, die zum Anbau von Getreide in diesem unwegsamen Gelände angelegt wurden, und schließlich, 3500 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, die grasbewachsenen Hochebenen. Das Lama einte diese drei grundverschiedenen Inkawelten und hielt das riesige Reich zusammen. Es war eine Welt verschiedener Völker, die verschiedene Sprachen und Götter kannten und oft miteinander Krieg geführt hatten, und die Regierenden mussten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel aufbieten, um diesen aus dem Boden gestampften Staat zusammenzuhalten. Mancherorts wurde die herrschende Oberschicht schonungslos ausgemerzt, anderswo wurde sie angegliedert, erhielt privaten Grund und Boden und wurde von Steuern befreit. Später eroberte Gebiete wie der Norden Ecuadors beispielsweise wurden nicht vollständig dem Inkareich angegliedert, sondern ihnen wurde der Status von Satellitenstaaten zugestanden. Um diesen kulturellenFlickenteppich zu einem mächtigen Reich zusammenzuschweißen, wurde die Militärmaschinerie der Inka eingesetzt, die Abertausende von Lamas als Transportmittel und Nahrungslieferanten benötigte. Es ist bekannt, dass die Inka, nachdem sie in einer frühen Schlacht von den Spaniern geschlagen worden waren, 15.000 dieser Tiere zurückließen.
    Unser kleines Lama ist aus Gold, dem Stoff, um den sich in der Mythologie der Inka alles dreht. Gold war das Attribut des großen Sonnengottes und stand für seine schöpferischen Kräfte – Gold wurde beschrieben als der «Schweiß der Sonne», während Silber die «Tränen des Mondes» genannt wurde. Gold wurde mit der männlichen Kraft assoziiert, vor allem mit der des Inkakaisers, des Sonnensohnes selbst. Artefakte der Inka aus Gold oder Silber sind heute eine Seltenheit geworden: winzige Überreste des unermesslichen Reichtums, den die Spanier nach ihrer Ankunft in den 1520er Jahren beschrieben. Von Palästen ist da die Rede, deren Wände mit Gold überzogen waren, von Menschen- und Tierstatuen aus Gold und Silber, von goldenen Miniaturgärten, in denen es wimmelte von funkelnden Vögeln, Reptilien und Insekten. All diese Dinge wurden den Spaniern übergeben oder von diesen geraubt. Und die Spanier schmolzen die Kostbarkeiten fast ausnahmslos ein und machten Gold- und Silberbarren daraus, die sie nach Spanien schickten.
    Wie in allen Kulturen waren Saat und Ernte mit Ritualen und Opferhandlungen verbunden, und bei den Inka waren es nicht selten Lebewesen, die geopfert wurden, vom Meerschwein bis zum Kind aus der Oberschicht. Und Lamas, erklärt der peruanische Kenner der Inkakultur Gabriel Ramón, wurden zu Tausenden geopfert:
    «Während der Inkaherrschaft gab es zwei Kalendersysteme. Das eine war der offiziell für das ganze Reich gültige Kalender, aber daneben existierte eine Vielzahl kleinerer Kalendarien aus den eroberten Gebieten und Regionen. Im offiziellen Kalender wurde versucht, das landwirtschaftliche Jahr, also die Zeiten, in denen gesät und geerntet wurde, mit den wichtigsten Festen in Einklang zu bringen, und in diesem offiziellen Kalender finden sich auch einige Zeremonien, die mit dem Lama in Verbindung stehen. Der indigene Schriftsteller Guaman Poma erwähnt beispielsweise ein feierliches Regenritual im Oktober, bei dem weiße Lamas geopfert werden mussten.»
    Das wichtigste religiöse Ereignis bei den Inka war das Sonnenfest. Ein spanischperuanischer Chronist hat uns eine ausführliche Beschreibung hinterlassen:
    «Darauf kamen die Inka-Priester mit einer gewaltigen Menge Lämmer, unfruchtbarer Schafe und Hammel aller Farben, denn das natürliche Vieh kommt dortzulande in allen Farben vor, so wie in Spanien die Pferde. All dieses Vieh gehörte der Sonne. … Dieses erste Opfer, das schwarze Lama, diente dazu, Vorhersagen über das Fest zu gewinnen. … Sie ergriffen das Lama und wandten sich mit dem Kopf nach Osten … sie öffneten das Tier bei lebendigem Leib an der linken Seite, dort langten sie hinein und entnahmen das Herz zusammen mit der Lunge und dem ganzen Schlund, sie schnitten ihn nicht, sondern vielmehr rissen sie ihn mit der Hand heraus, und er musste ganz, vom Gaumen angefangen, zum Vorschein kommen. … Als höchst glückliches Anzeichen galt es ihnen, wenn die Lunge noch zuckend herauskam, nicht schon abgestorben … Nach dem Lammopfer brachten sie eine große Menge Lämmer, Schafe und Hammel für das gemeine Opfer herbei; und dieses vollzogen sie nicht wie das vorige, indem sie es bei lebendigem

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