Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
die Berichte ihrer spanischen Eroberer angewiesen. Anhand dieser Berichte und der noch erhaltenen Objekte wird deutlich, dass der Aufbau des Inkareichs zu den erstaunlichsten Leistungen in der Geschichte der Menschheit gehört. Während die Ming-Dynastie in China die Macht antrat und die Osmanen Konstantinopel einnahmen, errichteten die Inka ihr mächtiges Reich. Um 1500 beherrschten sie ein Gebiet, das zehnmal größer war als ihr Ursprungsland im Süden Perus.
Das Andengebirge ist schroff und unzugänglich – es war ein senkrechtes Reich, das Terrassenfelder an den Hängen anlegen und steile Straßen bauen musste, die über die Gipfel führten. Mit Bewässerungssystemen und Kanälen wurden Flussläufe umgeleitet und mit Terrassenanlagen Berghänge in blühende Felder und Gärten verwandelt.
Gut gefüllte Lagerhäuser und ein ausgedehntes Straßennetz zeigten, wie sorgfältig Planung und Vorratshaltung betrieben wurden. Die Inka machten unzugängliche Gebiete zugänglich, und der Schlüssel ihres Erfolgs war das Lama. Dabei war die Abhängigkeit eines Staates von Tieren beileibe nichts Neues, wie wir von dem Evolutionsbiologen Jared Diamond erfahren:
«Die Verfügbarkeit und die Art der domestizierten Tiere hat die Geschichte der Menschheit und ihrer Kultur nachhaltig beeinflusst. In der Alten Welt beispielsweise, in Europa und Asien, lieferten die großen Nutztiere Eurasiens – Pferde, Rinder, Ziegen, Schafe und Schweine – Fleisch, Proteine und Milch. Einige waren so groß, dass sie als Transporttiere genutzt werden konnten. Einige wie Pferde, Kamele und Esel waren so groß, dass man darauf reiten konnte, und einige, vor allem Rinder und Pferde, konnten vor den Karren gespannt werden. Die Pferde und Kamele, auf denen man reiten konnte, wurden als Kriegstiere eingesetzt, was den Eurasiern einen gewaltigen Vorteil gegenüber den Völkern anderer Kontinente verschaffte. Man kann also sagen, dass domestizierte Tiere nicht nur das sesshafte Leben nachhaltig begünstigten und Nahrungsmittel lieferten, sondern sie dienten darüber hinaus auch als Mittel der Landnahme.»
Das zoologische Lotteriespiel, das Jared Diamond beschreibt – in dem es allein vom Zufall abhängt, ob die in einer bestimmten Region heimischen Tiere domestizierbar sind oder nicht –, begünstigte Europa und Asien gewaltig. Australien dagegen zog eher eine Niete. Es ist sehr schwer, einen Emu zu zähmen, und nie ist jemand auf einem Känguru in den Krieg gezogen. Die Bewohner des südamerikanischen Kontinents waren kaum besser dran, aber sie hatten immerhin das Lama. Lamas können es in punkto Schnelligkeit nicht mit Pferden aufnehmen und sind als Packtiere nicht annähernd so leistungsfähig wie Esel; außerdem haben sie die lästige Angewohnheit, einfach stehen zu bleiben und sich nicht mehr vom Fleck zu rühren, wenn sie müde sind. Aber sie sind außergewöhnlich gut für große Höhen gerüstet; sie kommen bestens mit Kälte zurechtund können sich ihr Futter selbst suchen; sie liefern Wolle, Fleisch und Dung; und sie können zwar keine Reiter tragen, aber ein gesundes Lama kann leicht ein Gewicht von 30 Kilogramm – mehr als das Gepäck eines Flugreisenden heute im Allgemeinen wiegen darf – befördern, was es als Lasttier für die Art von Waren und Gerätschaften, wie sie im Krieg benötigt werden, geradezu prädestiniert. Während sie ihr Reich entlang der Anden ausweiteten, züchteten die Inka Lamas in rauen Mengen als Packtiere für ihre Armeen. Und natürlich fertigten sie auch Abbilder dieser zähen Kreatur, die für das Leben der Menschen und für das Gedeihen des Reiches eine so wichtige Rolle spielte.
Unser goldenes Lama ist so klein, dass es bequem auf meiner Handfläche Platz hat – es ist nur gut fünf Zentimeter hoch. Es ist hohl, aus dünnem, gehämmertem Blattgold gefertigt und darum sehr leicht. Es macht einen ausgesprochen munteren Eindruck, der Hals in die Höhe gereckt, die Ohren aufmerksam gespitzt, die Augen weit geöffnet, das Maul unverkennbar zu einem Grinsen verzogen – alles in allem ein erstaunlich freundlicher Vertreter einer Spezies, deren Verhalten normalerweise zwischen herablassender Belustigung und spuckfreudigem Hohn zu schwanken scheint. Überall auf dem Gebiet des Inkareichs wurden solche Figürchen aus Gold oder Silber gefunden, meist als Opfergaben auf Bergkuppen vergraben.
Das Inkagebiet war deutlich in drei Höhenstufen gegliedert: Da war einmal der flache Küstenstreifen, dann gab es die
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