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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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verfügte. Diese Schiffe waren ein kraftvolles Symbol ihrer Tage, vergleichbar mit der Bedeutung des Space Shuttle in unserer Zeit. Darum waren die Leute wahrscheinlich so stolz, wenn sie ein Nef hatten, das bei großen Anlässen über den Tisch rollte, weil es eben mehr war als ein mechanisches Spielzeug: In ihm spiegelte sich der Ruhm der Kriegsschiffe, die so ziemlich das Nonplusultra des technischen Fortschritts ihrer Zeit repräsentierten.»
    Diese beeindruckenden Schiffe waren zu ihrer Zeit die größten und kompliziertesten Maschinen Europas. Die vergoldete Miniaturgaleone ist ebenfalls ein großartiges Konstrukt, ein Meisterwerk der technischen Fertigung und der künstlerischen Gestaltung, der Mechanik und der Goldschmiedekunst. Paradoxerweise wurde dieses kleine Schiff für eine Gesellschaft geschaffen, die Hunderte von Kilometern vom Meer entfernt lebte, und höchstwahrscheinlich hat Hans Schlottheim, der Binnenländler, der es geschaffen hat, in seinem ganzen Leben keinen echten Hochseesegler gesehen. Eswurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der reichen Handelsstadt Augsburg gefertigt, die freie Stadt des Heiligen Römischen Reiches und damit Teil eines von Polen im Osten bis zu den belgischen Kanalhäfen im Westen reichenden Herrschaftsgebiets unter Kaiser Rudolf II. war.
    Hoch auf dem Achterdeck thront der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, umgeben von den sieben Kurfürsten.
    Rudolf ist es auch, den wir in vollem Ornat auf dem Achterdeck unseres Schiffes sitzen sehen. Umringt ist er von den sieben Kurfürsten, jenen weltlichen und klerikalen Würdenträgern der deutschsprachigen Welt, die allein zur Wahl des Kaisers berechtigt waren und sich dabei durch Bestechungsgelder bereicherten. Höchstwahrscheinlich wurde unser Schiff für einen dieser Kurfüsten, August von Sachsen, gefertigt. In dessen Bestandsverzeichnis findet sich eine Beschreibung, die so genau auf den Schiffsautomaten des Britischen Museums zutrifft, dass sie sich eigentlich nur auf unser Nef beziehen kann:
    «Ein vergoldetes Schiff, kunstvoll gefertigt, mit einer Uhr, die alle Viertelstunde schlägt und alle 24 Stunden aufgezogen werden muss. Oben in den sich drehenden Mastkörben schlagen Matrosen mit einem Hammer auf Glocken und zeigen die Viertelstunden und Stunden an. Im Innern sitzt der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches auf dem kaiserlichen Thron, und vor ihm defilieren die sieben Kurfürsten mit ihren Wappen und erweisen ihm ihre Ehrerbietung. Des Weiteren kündigen zehn Trompeter und ein Kesselpauker im Wechsel den Beginn des Banketts an. Daneben gibt es einen Trommler und drei Wachleute und 16 kleine Kanonen, von denen elf geladen und abgefeuert werden können.»
    Was mögen sich die geladenen süddeutschen Gäste gedacht haben, während sie zusahen und zuhörten, wie dieses amüsante Spielzeug seine Kunststücke vollführte? Natürlich werden sie die Präzision des Automaten bewundert und bestaunt haben, aber ihnen muss auch bewusst gewesen sein, dass es ein bewegtes Sinnbild war, ein Symbol für das Staatsschiff. Die Vorstellung vom Staat als Schiff und vom Regierenden als Steuermann oder Kapitän ist in der europäischen Kultur tief verankert. Cicero hat das Bild häufig benutzt, und tatsächlich leitet sich das Wort Gouverneur vom lateinischen
gubernator
ab, was so viel heißt wie Steuermann. Interessanter noch: Das lateinische
gubernator
geht auf das griechische Wort
kybernetes
zurück, das auch die Wurzel für den Begriff Kybernetik ist; Steuerung, Regelung und Automatik treffen also in unserer Sprache – und in dieser Galeone – zusammen.
    Der Staat, für den dieses Schiff steht, war anders als alle anderen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war ein einzigartiges Phänomen in Europa. In seiner ganzen Ausdehnung über das Gebiet des heutigen Deutschland und seine Grenzen hinaus war es ein mindestens ebenso komplizierter Mechanismus wie unsere Galeone. Es war kein Staat im modernen Wortsinn, sondern ein verzweigtes Konglomerat klerikaler Territorien, unzähliger Fürstentümer und reicher Stadtstaaten. So viele unterschiedliche Elemente in friedlicher Koexistenz zu vereinen, zusammengeschweißt durch die Treue zur Person des Kaisers, war ein alter europäischer Traum, ein Traum, der sich als erstaunlich anpassungsfähig erwies.
    In der Zeit unserer vergoldeten Galeone gewann das klassische Bild vom Staatsschiff eine neue Bedeutungsdimension. Schiffe waren in den Brennpunkt eines gewaltigen

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