Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Hand in Hand mit einer anderen Tradition, dem Prinzip der religiösenToleranz, die als Vermächtnis von Dschingis Khan und Tamerlan, den berühmten Vorfahren der Moguln, betrachtet wurde. Diese religiöse Toleranz erstreckte sich auch auf die eroberten Gebiete, und sie unterschied das Mogulreich von anderen islamischen Staaten. In der Einleitung seiner Autobiographie preist Jahangir die Toleranz seines Vaters Akbar im Vergleich zu den Herrschern des Osmanischen Reiches und Irans:
«Hier war Platz für die Lehren gegensätzlicher Religionen, für gute wie für schlechte Überzeugungen, und es stand kein Weg offen für Zwist und Streit. Sunniten und Schiiten besuchten die gleiche Moschee, Juden und Christen die gleiche Kirche, und jeder übte seinen Glauben nach seiner Fasson aus.»
Sir Thomas Roe, der 1617 als erster britischer Gesandter nach Indien kam, gibt in denkwürdiger Weise Jahangirs eigenes Bekenntnis zur religiösen Toleranz wieder, abgelegt während eines offensichtlich nicht ganz unüblichen abendlichen Besäufnisses:
«Der gute König fing an, sich über die Gesetze von Moses, Jesus und Mohammed zu ereifern; und beim Trinken wurde er so leutselig, dass er sich zu mir wandte und sagte: ‹Bin ich ein König? Seid mir willkommen.› Ob Christen, Mauren oder Juden, er mischte sich nicht in ihre Glaubensdinge ein: Sie kamen in Liebe und er bot ihnen Schutz vor allem Unrecht; Sie lebten unter seinem Schutz, und niemand durfte sie unterdrücken; und das wiederholte sich oft; aber wenn er sehr betrunken war, brach er in Tränen aus und verfiel in glühende Dispute, und so ließ er uns erst gegen Mitternacht gehen.»
Jedenfalls legte Jahangir, ob in nüchternem oder betrunkenem Zustand, als Herrscher eine erstaunliche Toleranz an den Tag. Wenn er Reisen durch sein Reich unternahm, liefen die Menschen zu Tausenden zusammen, um zugegen zu sein, wenn er Geistliche an ihrer Wirkungsstätte besuchte und öffentlich demonstrierte, was gelebte Glaubensfreiheit in einer multireligiösen Gesellschaft ist. Aber offenbar war es Jahangir auch ein persönliches Anliegen, den spirituellen Gehalt anderer Glaubensrichtungen zu ergründen. In seiner Autobiographie beschreibt er eine seiner vielen Begegnungen mit dem hinduistischen Einsiedlermönch Gosain Jadrup:
«Der Ort, an dem zu leben er beschlossen hatte, war eine Höhle, die in einen Berghang geschlagen und mit einer Tür versehen worden war … In diesem engendunklen Loch verbringt er sein Leben in Einsamkeit. Selbst an kalten Wintertagen zündet er kein Feuer an, obwohl er fast nackt und nur vorne und hinten mit einem Stofffetzen behangen ist … Ich habe mit ihm gesprochen, und seine Wortgewandtheit hat mich ungemein beeindruckt.»
Jahangirs Worte lassen darauf schließen, dass solche Begegnungen in spiritueller wie in politischer Hinsicht eine wichtige Rolle im Leben der herrschenden Moguln gespielt haben; und mit Sicherheit waren Situationen wie diese, in denen ein Reicher und Mächtiger sich Unterweisung von einem armen Gottesmann holt, anderswo kaum denkbar. Ein europäischer König dieser Zeit, öffentlich dargestellt als demütiger Schüler, der in Glaubensfragen unterwiesen wird – diese Vorstellung ist nahezu unmöglich. Der indische Historiker Aman Nath sagt über die jahrhundertealte Tradition der Begegnung zwischen Politikern und Geistlichen in Indien:
«Für mich, der ich in Indien geboren und in der Kultur und Geschichte dieses Landes verwurzelt bin, ist das ein ganz normales Geschehen. Daran hat sich nicht viel geändert, denn auch heute suchen die Mächtigen aus Politik und Gesellschaft Geistliche auf, wenn auch vielleicht aus den falschen Beweggründen. Aber in dem Bild, über das wir reden, steht der Glaube über Macht und Politik. Ein Prinz, dem als jungem Mann andere Dinge wichtig sind, wird dazu erzogen zu glauben, dass unter seiner Regentschaft alles gut gehen wird, wenn er den Segen von Geistlichen bekommt. Und die Tatsache, dass er nicht dazu gezwungen wird, dass er einfach zu einem Sufi-Mönch geht und das Haupt neigt, ist die zentrale Botschaft dieses Bildes: Einer, der mehr Reichtum und Macht besitzt und ehrgeizigere Ziele verfolgt, kniet vor einem anderen, der alles hingegeben hat. In Indien ist weniger mehr, und weil es so viel Armut gibt, dass ‹weniger› mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht wird und der Satz vom Heiligen, der keine materiellen Güter braucht, zu einer Art Kompensation wird, sind nur Narren und habgierige
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