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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Menschen erpicht darauf, alles zu besitzen.»
    Ungeachtet aller politischen Unruhen, die Indien seit Jahangirs Regentschaft erschüttert und verändert haben, hat sich die Tradition der religiösen Toleranz gegenüber allen Glaubensrichtungen erhalten und gehört zu den tragenden Elementen des modernen indischen Staates.

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Bhima-Schattenpuppe
    Schattenspielfigur, von der Insel Java, Indonesien
1600–1800 n. Chr.
    Als Barack Obama in jungen Jahren nach Java kam, weil seine Mutter einen Indonesier geheiratet hatte, staunte er beim Anblick einer riesig breitbeinig über der Straße stehenden Statue mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Affen. Das sei Hanuman, der Affengott der Hindus, wurde ihm gesagt. Die Tatsache, dass wir in den Straßen Indonesiens heute auf die monumentale Statue einer Hindu-Gottheit stoßen, erzählt eine faszinierende Geschichte der Toleranz und der Assimilation, eines zwanglosen Kompromisses der Religionen, wie er in keiner der multireligiösen Gesellschaften, die wir bisher betrachtet haben, gefunden wurde. Und diese Geschichte ist in gewisser Weise zusammengefasst in einer Marionette des indonesischen Schattentheaters, einer uralten, aber immer noch lebendigen und gefeierten Kunstform, die durch und durch traditionell, aber bis heute auch von großer politischer Bedeutung ist. Anhand dieser Puppe und ihrer Gefährten können wir über weite Strecken den Prozess der religiösen und politischen Veränderungen nachverfolgen, der vor 500 Jahren in Südostasien einsetzte und dessen Auswirkungen sich auf Java bis heute bemerkbar machen.
    Die hier vorgestellte Puppe, eine von mehreren hundert Exemplaren ihrer Art, die zur Sammlung des Britischen Museums gehören und einen Zeitraum von 200 Jahren bis zur Gegenwart repräsentieren, stammt von der indonesischen Insel Java. Sie ist etwa 70 Zentimeter hoch und stellt eine männliche Figur in stark stilisiertem Profil dar. Ihr Name ist Bhima. Bhima hat sehr eigene, fast karikaturhafte Gesichtszüge – eine sehr lange Nase beispielsweise – und lange dünne Arme, die jeweils in einer einzelnen Kralle enden. Sein Körper ist mit feinen,spitzenartigen Perforationen überzogen, was die dramatische Wirkung seines Schattens in einer Aufführung sicher noch verstärkte. Bhimas Gesicht ist schwarz, aber er trägt goldfarbene Kleidung und Schmuckwerk in leuchtenden Farben. Auch wenn er heute leblos und zerbrechlich wirkt, muss er früher einmal in Aufführungen an einem javanischen Hof das Publikum nächtelang in seinen Bann gezogen haben. Solche Aufführungen waren als Schattenspiel oder Schattentheater bekannt und sind es noch heute.

    Ihr Aussehen verdankt unsere Marionette einer der tiefgreifendsten religiösen Veränderungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Während Spanien der Neuen Welt seinen Katholizismus aufzwang, breitete sich der Islam unaufhaltsam in dem Gebiet aus, das heute zu Malaysia, Indonesien und den südlichen Philippinen gehört, und um 1600 war die Mehrheit der javanischen Bevölkerung muslimisch. Das Schattentheater hatte allerdings schon zum Leben der Javaner gehört, als an den Islam noch lange nicht zu denken war. Und Bhima selbst ist eine Figur, die nicht nur auf Java, sondern auch in ganz Indien bekannt war, weil er ein Charakter aus einem der größten hinduistischen Epen, dem
Mahabharata
, ist. Auf Java wurde diese hinduistische Figur allerdings von muslimischen Puppenspielern bewegt, und zwar vor einem Publikum, das mehrheitlich aus Muslimen bestand. Offenbar hat sich nie jemand daran gestört, und so verbinden sich bis heute heidnische, hinduistische und muslimische Elemente im indonesischen Schattentheater.
    Die Herstellung einer Marionette, wie unser Bhima eine ist, war und ist eine Kunst, die ein hohes Maß an Können und Geschick erfordert, und bis zur Fertigstellung sind mehrere verschiedene Künstler an dem Prozess beteiligt. Gefertigt wird die Figur aus Büffelhaut, die so lange geschabt und gedehnt wird, bis sie ganz dünn und fast durchscheinend ist. Dieses Material hat dem Schattentheater seinen javanischen Namen eingebracht –
Wayang Kulit
, «Hauttheater». Wenn die Haut solcherart vorbereitet ist, wird sie mit Goldfarbe überzogen und bemalt; dann werden die beweglichen Arme am Körper montiert, und als Letztes folgen der Haltestab aus Büffelhorn sowie die Führungsstäbe, mit denen die Gliedmaßen der Puppe bewegt werden.
    Ursprünglich dauerte eine Schattenspiel-Aufführung die ganze Nacht. Eine

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