Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
Vom Netzwerk:
unscheinbar aussieht: ein kleiner, gedeckter, gräulicher Stein, so groß wie eine geballte Faust. Wenn man näher tritt, erkennt man, dass es sich um ein sitzendes Paar handelt, das sich mit Armen und Beinen in innigster Umarmung umschlungen hält. Deutliche Gesichtskonturen sind nicht auszumachen, aber man kann doch davon sprechen, dass sich diese beiden Menschen in die Augen schauen. Für mich ist das eine der zärtlichsten Darstellungen von Liebe, durchaus vergleichbar den berühmten küssenden Paaren von Brâncuşi und Rodin.
    Zu der Zeit, da dieser Stein von Menschenhand geformt wurde, befand sich die menschliche Gesellschaft gerade im Umbruch. Als das Klima überall auf der Welt wärmer wurde und aus Jägern und Sammlern Menschen mit einer sesshafteren Lebensform wurden, die auf Landwirtschaft beruhte, veränderte sich unserVerhältnis zur natürlichen Umwelt. Hatten wir bislang in einem im Gleichgewicht befindlichen Ökosystem nur eine untergeordnete Rolle gespielt, so versuchten wir nun, unsere Umwelt aktiv zu gestalten, die Natur zu kontrollieren. Im Nahen Osten führte die Klimaerwärmung dazu, dass sich fruchtbares Acker- und Weideland ausbreitete. Bisher waren die Menschen umhergezogen, hatten Gazellen gejagt und die Samen von Linsen, Kichererbsen und wilden Gräsern gesammelt. Doch in der neuen, üppigeren Savanne gab es Unmengen an Gazellen, und diese Tiere blieben das ganze Jahr über an einem Ort, so dass sich die Menschen zusammen mit ihnen niederließen. Einmal sesshaft geworden, begannen sie Ähren zu sammeln, die sich noch auf den Halmen befanden, und indem sie dieses Saatgut sammelten und aussäten, betrieben sie unbeabsichtigt eine frühe Form von Gentechnik. Die meisten Wildgräsersamen fallen von der Pflanze ab und werden vom Wind verteilt oder von Vögeln verzehrt, doch diese Menschen nahmen die Ähren, die am Stängel zurückblieben – ein entscheidendes Merkmal, wenn eine Pflanze angebaut werden soll. Sie streiften diese Ähren ab, entfernten die Schale und mahlten die Körner zu Mehl. Später säten sie die übrig gebliebenen Körner wieder aus. Die Landwirtschaft hatte ihren Anfang genommen – und seit über 10.000 Jahren backen und teilen wir unser Brot.
    Diese ersten Bauern kultivierten nach und nach die beiden wichtigsten Getreidesorten dieser Welt – Weizen und Gerste. Nun, da ihr Leben weniger ruhelos war, hatten unsere Vorfahren Zeit, nachzudenken und kreativ zu sein. Sie schufen Bilder, die zentrale Bestandteile ihres im Wandel befindlichen Universums zeigten und feierten: Nahrung und Kraft, Sex und Liebe. Zu diesen Menschen gehörte auch der Schöpfer unserer Liebenden-Skulptur. Ich fragte den britischen Bildhauer Marc Quinn, was er davon hält:
    «Wir glauben immer, wir hätten den Sex entdeckt, und all die anderen Zeiten vor uns seien ziemlich prüde und primitiv gewesen, während doch in Wirklichkeit – ganz offenkundig – seit mindestens 10.000 v. Chr., da diese Skulptur entstand, die Menschen emotional vielschichtig sind, sicherlich so komplex wie wir Heutige.
    Das Unglaubliche an dieser Skulptur ist: Wenn man sie dreht und von verschiedenen Seiten betrachtet, verändert sie sich komplett. Von der einen Seite aus gesehen hat man die Totale der Umarmung, man erkennt die beiden Figuren. Vonder anderen Seite sieht das Ganze wie ein Penis aus, von einer wiederum anderen wie eine Vagina und nochmals anders gesehen wie Brüste – es wirkt fast so, als würde die Skulptur den Geschlechtsakt nicht nur darstellen, sondern auch formal nachahmen. Und diese verschiedenen Seiten entfalten sich, wenn man sie in Händen hält, wenn man das Objekt in den Händen hin und her dreht, und sie entfalten sich auch in der Zeit, was, wie ich finde, ein anderer wichtiger Aspekt dieser Skulptur ist – sie ist nicht etwas, das sofort fertig vor einem steht. Man geht drum herum, und das Objekt entfaltet sich in Echtzeit. Es ist fast wie in einem Pornofilm, man hat die Totalen, die Nahaufnahmen – die Skulptur hat die Eigenschaften eines Films, wenn man sie dreht, man bekommt all diese verschiedenen Dingezu sehen. Und doch haben wir es mit einem ergreifenden, wunderschönen Objekt zu tun, das von zwischenmenschlicher Beziehung und Nähe handelt.»
    Von unterschiedlichen Seiten aus betrachtet, verändert sich die Figur vollständig.
    Was wissen wir über die Menschen, die in dieser innigen Umarmung dargestellt sind? Der Hersteller – oder sollen wir sagen: der Bildhauer? – der Liebenden

Weitere Kostenlose Bücher