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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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gehörte einem Volk an, das wir heute als Natufier bezeichnen; sie lebten in einer Gegend, die das heutige Israel, die Palästinensergebiete, den Libanon und Syrien umfasste. Unsere Skulptur hat man südöstlich von Jerusalem gefunden. 1933 besuchten der berühmte Archäologe Abbé Henri Breuil und ein französischer Diplomat namens René Neuville ein kleines Museum in Bethlehem. Neuville berichtete:
    «Gegen Ende unseres Besuchs zeigte man mir ein Kästchen aus Holz, in dem sich verschiedene Gegenstände aus der Umgebung befanden, die, abgesehen von dieser Statuette, wertlos waren. Ich erkannte sogleich die besondere Qualität ihrer Gestaltung und fragte, woher diese Objekte stammten. Man antwortete mir, sie seien von einem Beduinen gebracht worden, der von Bethlehem auf dem Weg zum Toten Meer war.»
    Neuville, der ganz hingerissen war von dieser Figur, wollte mehr über die Umstände ihrer Entdeckung wissen und machte den Beduinen ausfindig, von dem man ihm erzählt hatte. Schließlich gelang es ihm, auch den für den Fund verantwortlichen Menschen aufzuspüren, der ihn in die Höhle führte – in der Wüste von Judäa, nicht weit von Bethlehem –, wo man die Skulptur entdeckt hatte. Sie trug den Namen Ain Sakhri, und deshalb sind die Figuren, die Neuville so begeistert hatten, bis heute als die Liebenden von Ain Sakhri bekannt. Wichtig dabei war: Neben der Figur hatte man noch andere Objekte gefunden, die belegten, dass die Höhle als Unterkunft und nicht als Grabstätte fungiert hatte; die Figur musste also im häuslichen Alltag irgendeine Rolle gespielt haben.
    Wir können nicht genau sagen, was das für eine Rolle war, aber wir wissen, dass in dieser Unterkunft Menschen hausten, die zur Zeit der beginnenden Landwirtschaft lebten. Zu dieser neuen Lebensweise gehörten das Sammeln und Lagern von Nahrung. Das hatte für die Menschen eine geradezu revolutionäre Veränderung zur Folge. Dieser Prozess der Sesshaftwerdung machte sie natürlich anfälliger für Ernteausfälle, Pflanzenschädlinge, Seuchen und vor allem das Wetter als Jäger oder Nomaden; aber wenn alles problemlos lief, erlebte die Gesellschafteinen Boom. Eine sichere und im Überfluss vorhandene Nahrungsmittelquelle sorgte für ein nachhaltiges Bevölkerungswachstum, und die Menschen begannen in Dörfern mit zwei- bis dreihundert Bewohnern zu leben – die dichteste Bevölkerungskonzentration, welche die Welt bis dato erlebt hatte. Wenn die Vorratskammern gefüllt sind und der Druck genommen ist, hat man Zeit zum Nachdenken, und diese rasant wachsenden sesshaften Gemeinschaften hatten genügend Muße, um neue soziale Beziehungen zu entwickeln, das sich verändernde Muster ihres Lebens zu betrachten und Kunst zu schaffen.
    Unsere kleine Skulptur der ineinander verschlungenen Liebenden verkörpert möglicherweise eine zentrale Reaktion auf diese neue Lebensweise – eine neue, ganz andere Art, über uns als Menschen nachzudenken. Ian Hodder, Archäologe an der Stanford University, sieht in der Art und Weise, wie der Geschlechtsakt dargestellt wurde, und in den zeitlichen Umständen den Beleg für einen Prozess, den er als «Domestizierung des Geistes» bezeichnet:
    «Die Natufien-Kultur stammt noch aus der Zeit vor der völligen Domestizierung von Pflanzen und Tieren, weist aber bereits eine sesshafte Gesellschaft auf. Dieses Objekt, das seinen Fokus so eindeutig auf den Menschen und die menschliche Sexualität richtet, ist Teil der allgemeineren Entwicklung, bei der es verstärkt darum geht, den Geist, die Menschen, die menschliche Gesellschaft zu domestizieren. Man befasst sich eher mit den zwischenmenschlichen Beziehungen als mit den Beziehungen zwischen Menschen und wilden Tieren oder zwischen den wilden Tieren.»
    Hält man den Stein von Ain Sakhri in der Hand und dreht ihn hin und her, fällt nicht nur auf, dass wir es hier mit zwei Menschen statt nur einem zu tun haben, sondern dass wir aufgrund der Rundungen des Steins unmöglich sagen können, welcher der beiden nun männlich und welcher weiblich ist. Könnte diese Nicht-Unterscheidung, diese Ambiguität, die das Engagement des Betrachters verlangt, vom Hersteller dieses Objekts bewusst geplant gewesen sein? Wir wissen es nicht, ebenso wenig, wozu diese kleine Statue benutzt worden sein könnte. Einige Wissenschaftler glauben, sie sei für ein Fruchtbarkeitsritual gedacht gewesen, doch Ian Hodder ist anderer Ansicht:
    «Dieses Objekt lässt sich auf vielfache Weise verstehen. Zeitweise hat

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