Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
sich selbst vom Himmel berufen sah:
«Die militärische Stärke der majestätischen großen Qing ist auf ihrem Höhepunkt … Wie könnten sich die Dynastien der Han, Tang, Song oder Ming, die den Reichtum Chinas aufbrauchten, ohne einen Zentimeter Land hinzuzugewinnen, mit uns messen? … Keine Festung hat unserem Ansturm standgehalten, kein Volk sich uns nicht unterworfen … Darum heben wir dankbar den Blick zu den Segnungen des blauen Himmels über uns, wenn wir unseren großen Erfolg verkünden.»
Dieser Kaiser war überdies ein scharfsinniger Denker, ein geschickter Propagandist und ein künstlerisch begabter Mensch – ein Dichter und Meister der Kalligraphie, ein begeisterter Sammler von Gemälden und Kunstgegenständen des Altertums. Heute befinden sich viele dieser wertvollen Objekte im Besitz des Palastmuseums in Peking.
Man kann verstehen, dass unsere Bi-Scheibe das kaiserliche Interesse auf sich zog, denn sie ist ein rätselhaftes und faszinierendes kleines Ding, eine dünne cremefarbene Jadescheibe von der Größe eines Desserttellers, allerdings miteinem Loch in der Mitte und einem erhabenen inneren Rand. Anhand ähnlicher Grabfunde können wir heute sagen, dass unsere Bi-Scheibe vermutlich aus der Zeit um 1200 v. Chr. stammt. Zwar wissen wir nicht, wozu sie gebraucht wurde, aber man sieht auf den ersten Blick, dass es ein sehr fein gearbeitetes Stück ist.
Kaiser Qianlong in seinem Arbeitszimmer.
Kaiser Qianlong fand die Bi-Scheibe, als sie so vor ihm lag, ebenfalls sehr schön, so schön sogar, dass er sich inspiriert fühlte, ein Gedicht über die Gedanken zu schreiben, die ihm beim Betrachten des Objekts durch den Kopf gingen. Er gab diesem Gedicht den Titel: «Verse, gedichtet beim Zusammenführen einer Ding-Keramik mit einem frühzeitlichen Schalenständer aus Jade»:
«Es wird gesagt, dass es im Altertum keine Schalen gab/aber wenn dem so ist, woher kommt dann dieser Ständer? Es wird gesagt, dass der Ständer aus späteren Zeiten stammt/aber die Jade ist uralt. Und es wird auch gesagt, dass eine Schale mit dem Namen
wan
das gleiche sei wie ein Becken mit dem Namen
yu
, nur in der Größe von diesem unterschieden.»
Während Archäologen heute zwar wissen, dass Bi-Scheiben häufig in Grabstätten gefunden werden, sich aber ihrer Bedeutung und ihrer Verwendung nicht sicher sind, wurde der Kaiser von keinerlei Zweifeln geplagt. Er meint, die Bi-Scheibe sehe aus wie ein Schalenständer, ein Gegenstand, wie er in China seit dem Altertum verwendet wird. Er spielt sich mit seinem Geschichtswissen auf, indem er obskure Wahrheiten über altertümliche Schalen von sich gibt, und dann kommt er zu dem Schluss, dass sein Ständer nicht ohne Schale bleiben kann, auch wenn keine Schale zu finden ist:
«Der Ständer ist aus uralter Jade gemacht/aber die Jadeschale, die einst dazugehörte, ist längst verschwunden. Da man einen Ständer aber nicht ohne Schale zeigen kann/haben wir eine Keramik aus dem Ding-Ofen für ihn ausgewählt.
Indem er die Bi-Scheibe mit einem viel späteren Objekt zusammenführte, hat der Kaiser dafür gesorgt, dass sie nunmehr, zumindest seiner eigenen Überzeugung nach, ihre ästhetische Bestimmung erfüllt. Das ist eine für Qianlong und für China im 18. Jahrhundert typische Art, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Man bewundert die Schönheit, erforscht den historischen Hintergrund und präsentiert der Welt das Ergebnis in Form eines Gedichts, und schon ist ein neues Kunstwerk geboren.
In diesem Fall wurde die Bi-Scheibe selbst zum neuen Kunstwerk. Die Gedanken des Kaisers wurden in wunderbarer Kalligraphie darauf eingraviert, so dass das Objekt und seine Deutung durch ihn in einer ästhetisch ansprechenden Form miteinander verschmolzen. Die chinesischen Schriftzeichen sind so angeordnet, dass sie, von dem Loch in der Mitte wie die Speichen eines Rades ausstrahlend, die Worte ergeben, die ich oben zitiert habe. Viele würden das als Verschandelung, ja als Sakrileg betrachten – aber nicht so Kaiser Qianlong. In seinen Augen brachte die Schrift die Schönheit der Bi-Scheibe erst richtig zur Geltung. Aber die Inschrift hatte auch eine weltliche, politische Funktion, wie der Sinologe Jonathan Spence erklärt:
Die Jadeschale aus dem Palastmuseum in Peking, die Qianlong als Ergänzung seiner Bi-Scheibe wählte.
«Sie wurde sehr stark mit der chinesischen Vergangenheit in Verbindung gebracht, und die neue Qing-Dynastie wollte sich, wie die Dinge lagen, in die
Weitere Kostenlose Bücher