Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Annalen der Vergangenheit einschreiben lassen als Herrscher, die den Ruhm der Vergangenheit geerbt hatten und berufen waren, ihn noch zu mehren. Qianlong war ohne Zweifel ein großer Sammler; und im 18. Jahrhundert, der Zeit also, in der er seine Sammlung zusammentrug, dehnte China seine Grenzen immer weiter aus. Das Sammeln hatte bei ihm einen nationalistischen Hintergrund; er wollte zeigen, dass Beijing das kulturelle Zentrum Asiens war … Und wenn man Voltaire und anderen Denkern der Französischen Aufklärung folgt, hatten die Chinesen im 17. und 18. Jahrhundert den Europäern durchaus etwas zu geben, Weisheiten nämlich über das Leben und die Moral, über Verhaltensweisen und Gelehrsamkeit, über kultivierte Sitten und die schönen Künste …»
Und über Politik. Die Qing waren mit einem schweren innenpolitischen Handicap belastet. Sie waren keine Chinesen, sondern sie kamen aus der Mandschurei im äußersten Nordosten des Reiches. Sie blieben eine kleine Minderheit, den Han-Chinesen zahlenmäßig eins zu zweihundertfünfzig unterlegen, und sie waren für ein paar sehr unchinesische Eigenheiten bekannt – beispielsweise für ihre ausgeprägte Vorliebe für Milch und Sahne. War die chinesische Kultur beiihnen wirklich gut aufgehoben? Vor diesem Hintergrund ist Qianlongs Beschäftigung mit der frühen chinesischen Geschichte ein geschickter Akt der politischen Integration, aber nur einer unter vielen. Seine größte kulturelle Leistung war die
Vollständige Bibliothek der Vier Schätze
, die größte Büchersammlung, die je zusammengestellt wurde. Sie umfasste den gesamten Kanon der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis ins 18. Jahrhundert. Digitalisiert benötigt sie heute eine Speicherkapazität von 167 CD-ROMs.
Der chinesische Dichter Yang Lian erkennt das propagandistische Element in der Inschrift unserer Bi-Scheibe und sieht Qianlongs Verse in einem eher düsteren Licht:
«Wenn ich diese Bi-Scheibe betrachte, habe ich gemischte Gefühle. Einerseits gefällt es mir, wie sie eine spürbare Verbindung schafft zur kulturellen Tradition Chinas, weil das ein einzigartiges Phänomen ist, das vor langer Zeit einsetzte und nie aufgehört, sondern sich auch in schwierigen Zeiten immer weiter entwickelt hat … In diesem Sinne stand die Jade immer als Symbol für die große Vergangenheit. Die Schattenseite ist, dass diese schönen Dinge oft in die Hände von Herrschern gelangten, die keinen Geschmack hatten und denen es nichts ausmachte, die schönen Dinge mit schlechten Texten zu verschandeln. Also gehen sie hin und gravieren das Gedicht des Kaisers in ein wunderschönes Stück und machen ganz nebenbei noch ein bisschen Propaganda, was mir irgendwie bekannt vorkommt!»
Wie sein Zeitgenosse Friedrich der Große war auch Kaiser Qianlong kein begnadeter Dichter – offenbar vermischte er klassisches Chinesisch mit umgangssprachlichen Formen, und das Ergebnis war nicht berauschend. Das focht ihn allerdings wenig an. Er veröffentlichte im Laufe seines Lebens mehr als 40.000 lyrische Texte – Teil seiner umfangreichen Bemühungen, sich einen Platz in der Geschichte zu sichern.
Das ist ihm weitgehend gelungen. Auch wenn das Ansehen des Kaisers nach der Machtübernahme der Kommunisten schwer gelitten hat, sieht man ihn heute wieder in einem günstigeren Licht. Und jüngst wurde eine spektakuläre Entdeckung gemacht. Auf die Bi-Scheibe ließ der Kaiser, wie wir gesehen haben, die Worte gravieren: «Da man einen Ständer aber nicht ohne Schale zeigen kann/haben wir eine Keramik aus dem Ding-Ofen für ihn ausgewählt.» Die gleicheInschrift hat ein Wissenschaftler nun auf einer Schale aus der Sammlung des Palastmuseums in Peking gefunden. Zweifellos ist dies die Schale, die der Kaiser als Ergänzung für seine Bi-Scheibe ausgewählt hat.
Was Qianlong mit der Bi-Scheibe gemacht hat, ist aus keiner Geschichte wegzudenken, die sich über Objekte mitteilt. Um fremde Welten anhand von Dingen zu erforschen, ist nicht nur Wissen, sondern auch Fantasie und ein gewisses Maß an poetischer Rekonstruktion vonnöten; im Falle der Bi-Scheibe zum Beispiel weiß der Kaiser, dass er ein altes und in Ehren gehaltenes Objekt vor sich hat, und er möchte, dass es sich von seiner besten Seite zeigt. Er glaubt, dass es ein Ständer ist und sucht eine Schale, die perfekt dazu passt – eine Wahl, die er in der unerschütterlichen Gewissheit trifft, dass er das Richtige tut. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er mit seiner
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