Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Franzosen hielten noch fast zwanzig Jahre hartnäckig an ihrem Pariser Meridian fest, aber am Ende fügten auch sie sich, und heute legt jedes Land seine Zeitzone im Hinblick auf Greenwich Mean Time fest.
Doch unser Chronometer wurde auf der Beagle auch noch Zeuge eines weiteren, ganz anderen Wandels der Zeitvorstellung im 19. Jahrhundert. Darwins Reise auf der
Beagle
und sein daraus resultierendes Werk über die Evolution verschoben den Ursprung des Menschen – und letztlich auch den Ursprung allen Lebens – in eine unvorstellbar ferne Vergangenheit. Geologen hatten bereits gezeigt, dass die Erde deutlich älter war als bislang angenommen, was die Berechnungen von Erzbischof Ussher (siehe Kapitel 2) über den Haufen warf. Diese neue Vorstellung von Tiefenzeit – die mehrere zehn Millionen Jahre zurückreichte – machte die etablierten historischen und biblischen Denkmuster obsolet. Die Parameterverschiebung in Sachen Zeit und Veränderung zwang das 19. Jahrhundert dazu, Wesen und Bedeutung menschlichen Daseins von Grund auf neu zu denken. Professor Steve Jones, Genforscher und Fachmann für Darwin und die Evolution, erläutert, welche Bedeutung die Entdeckung der Tiefenzeit hatte:
«Meiner Ansicht nach ließ die Tiefenzeit die Menschen erkennen, dass die Erde nichts Unveränderliches war. Die größte Veränderung seit der Aufklärung ist ein Wandel in unserem Zeitverständnis, das Gefühl, dass Zeit letztlich endlos ist, und zwar sowohl die vergangene als auch die künftige Zeit. Man denke nur daran, dass der Gipfel des Mount Everest sich – im Zusammenhang der Tiefenzeit betrachtet – vor gar nicht so langer Zeit noch auf dem Meeresgrund befand; und einige derschönsten und besten Walfischfossilien findet man denn auch hoch oben im Himalaja.»
Für viele Menschen im 19. Jahrhundert waren das kaum begreifliche und grundstürzende Vorstellungen, aber die Zeit veränderte sich auch im Alltag oder sogar von Stunde zu Stunde. Dank Uhrmachern wie Earnshaw wurden exakte und zuverlässige Uhren immer erschwinglicher. Schon bald orientierte sich ganz Großbritannien an der Uhr, und die Zeitmessung hatte sich vom natürlichen Kreislauf des Tages und der Jahreszeiten abgekoppelt. Die Uhr bestimmte jeden Aspekt des Lebens – Geschäfte und Schulen, Vergnügen und Arbeit. Charles Dickens schrieb: «Sogar die Uhren richteten sich nach der Eisenbahn, so als habe die Sonne selber aufgegeben.» Dazu erklärt Nigel Thrift:
«Das Chronometer, eine außergewöhnlich genaue Uhr, bedeutete, dass nach und nach eine immer exaktere Zeitmessung möglich wurde, und das führte im 19. Jahrhundert zusammen mit einigen anderen Dingen zu einer immer stärkeren Standardisierung der Zeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die Eisenbahn, wo die auf dem Meridian basierende Standardzeit erstmals 1840 bei der Great Western Railway zur Anwendung kam und dann allmählich allgemein gebräuchlich wurde. 1855 orientierten sich 95 Prozent der Städte an der GMT, und 1880 wurde die GMT qua Gesetz überall im Vereinigten Königreich zum Referenzpunkt. Doch man sollte sich auch daran erinnern, dass davor – und mit Sicherheit bis zum Beginn des Eisenbahnzeitalters – jeder Ort seine eigene Ortszeit hatte: So war etwa Leeds, wenn man dorthin reiste, sechs Minuten hinter London zurück; in Bristol waren es zehn Minuten. Damals spielte das keine Rolle. Wichtig wurde es allerdings, als man schnell zu reisen begann. Allmählich, aber doch unausweichlich richteten sich alle nach einer Zeit.»
Als die Menschen eine gemeinsame Standardzeit übernahmen, gerieten auch zahlreiche Aspekte des Arbeits- und des Alltagslebens unter das strenge Regime der Zeit, von der Stechuhr am Arbeitsplatz bis zu den Schulstunden und der Tea Time – sie ist Thema des nächsten Kapitels.
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Frühviktorianisches Teeservice
Teegeschirr aus Steingut und Silber, aus Staffordshire, England
1840–1845
Was gibt es Heimeligeres, Unspektakuläreres, Britischeres als eine schöne Tasse Tee? Man könnte aber auch umgekehrt fragen: Gibt es etwas weniger Britisches als eine Tasse Tee? – wenn man bedenkt, dass der Tee aus Plantagen in Indien oder China stammt und oftmals mit Zucker aus der Karibik gesüßt wird. Es ist eine der Ironien der nationalen Identität Großbritanniens – vielleicht aber sagt es auch alles über unsere nationale Identität aus –, dass ausgerechnet das Getränk, das zur weltweiten Karikatur von «Britishness» geworden ist, so gar nichts
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