Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
den Kommunismus gewonnen sein würde, erwies sich für den Rest des Jahrhunderts als Normalzustand. Die Oberseite des Tellers zeigt die faszinierende Klarheit des kommunistischen Traums in den frühen Tagen des Bolschewismus. Die Unterseite zeigt den pragmatischen Kompromiss – das Arrangement mit der kaiserlichen Vergangenheit und den politischen Realitäten und den vielschichtigen
modus vivendi
mit der kapitalistischen Welt. Dieses Muster sollte die nächsten siebzig Jahre Gültigkeit behalten in einer Welt, die in zwei verfeindete, jedoch in vieler Hinsicht aufeinander angewiesene ideologische Blöcke gespalten war. Die beiden Seiten unseres Tellers zeichnen den Weg von der weltweiten Revolution bis zur fragilen Stabilität des Kalten Krieges nach.
97
Hockneys
In the Dull Village
Radierung, aus England
1966 n. Chr.
«Sexual intercourse began
In nineteen sixty three
(which was rather late for me)
–
Between the end of the ‹Chatterley› ban
And The Beatles’ first LP.»
So lauten die ersten Zeilen in einem der fröhlicheren Gedichte von Philip Larkin, dem Meister der klagevollen Poesie, und er hält darin fest, was für ihn die Quintessenz der Swinging Sixties war – Sex, Musik und nochmal Sex. Jede Generation ist der Meinung, sie habe den Sex erfunden, aber keine war davon so überzeugt wie die Jugend der 1960er Jahre. Natürlich hatten die Sechziger mehr zu bieten als das, aber sie sind inzwischen legendär geworden als Jahrzehnt eines vollkommen neuen Freiheitsdenkens – oder einer selbstzerstörerischen Zügellosigkeit. Rund um den Erdball wurden in spontanen Massenzusammenkünften politische, gesellschaftliche und sexuelle Freiheiten gefordert, hierarchische und gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt und manchmal auch zerschlagen.
In den beiden vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit tiefgreifenden politischen Veränderungen befasst – mit der Durchsetzung von Rechten für einen ganzen Teil der Gesellschaft, sei es die Einführung des Wahlrechts für Frauen oder die (theoretische) Übertragung der Macht an das Proletariat. In den Unruhen der 1960er Jahre ging es eher um die Rechte des Einzelnen, darum, dass es jedem Menschen freistehen sollte, seine Rolle in der Gesellschaft uneingeschränktwahrzunehmen und nach seiner eigenen Vorstellung zu leben, solange er damit anderen keinen Schaden zufügte. Einige dieser Freiheiten mussten erkämpft werden, und Menschen bezahlten ihren Kampf dafür mit dem Leben: Das war die Zeit von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei, der Studentenunruhen in Paris und der Protestwellen an den Universitäten Europas und der USA, der Demonstrationen gegen Vietnamkrieg und atomare Aufrüstung.
Es war auch das Jahrzehnt des psychedelischen Flower-Power-Taumels zur Musik von Woodstock und San Francisco, den Beatles und den Grateful Dead. Im privaten Leben fand, befeuert von der Frauenbewegung und der Einführung der Antibabypille, eine sexuelle Revolution statt, homosexuelle Beziehungen wurden legalisiert. Es gibt kein früheres Jahrzehnt, in dem David Hockneys Radierung
In the Dull Village
hätte veröffentlicht werden können. Hockney begann sein Kunststudium in den 1950er Jahren, aber das Jahrzehnt, das ihn prägte und umgekehrt auch von ihm geprägt wurde, waren die 1960er Jahre. Er war schwul und willens, sowohl in seinem Leben als auch in seiner Arbeit offensiv damit umzugehen, und zwar in einer Zeit, in der homosexuelle Handlungen unter Männern in Großbritannien strafbar waren und systematisch verfolgt wurden. Er lebte abwechselnd in Kalifornien, wo seine berühmten Bilder von nackten jungen Männern in azurblauen Swimmingpools entstanden, und in Großbritannien, wo er seine Familie und seine Freunde malte.
Unsere Radierung zeigt zwei nackte junge Männer, vermutlich um die zwanzig Jahre alt, die bis zum Bauch zugedeckt nebeneinander im Bett liegen; wir betrachten sie vom Fußende des Bettes aus. Der eine hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, als würde er vor sich hin dösen, der andere sieht ihn begehrlich an. Wir haben keine Ahnung, ob die beiden sich gerade erst kennengelernt haben oder schon lange liiert sind, aber auf den ersten Blick sieht es aus wie ein ruhiger, vollkommen entspannter Morgen danach.
Das Bild gehört zu einer Reihe von Radierungen, zu denen Hockney durch die Gedichte von Konstantinos Kavafis inspiriert wurde
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