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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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deuten Regierende, wie wir an vielen Beispielen gesehen haben, die Vergangenheit nach den Bedürfnissen und Anforderungen der Gegenwart um, die Bolschewiken dagegen wollten das Volk davon überzeugen, dass die Vergangenheit vorbei sei und man die neue Welt aus dem Nichts erschaffen werde.
    Das Bild dieser neuen, gerechten Welt des Proletariats ist auf Porzellan gemalt, ein Material, das in der Geschichte üblicherweise mit Adel und privilegierten Schichten in Verbindung gebracht wurde. Auf Glasur handbemalt war er nur zu dekorativen Zwecken, nicht zum Gebrauch bestimmt. Der Teller ist aus sehr dünnem Porzellan, sein Rand ist gewellt. Er war ein vor der Revolution gefertigter Rohling, der zu den Restbeständen aus den Tagen der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur gehörte. Kaiserin Elisabeth hatte die Manufaktur im 18. Jahrhundert in der Nähe von St. Petersburg bauen lassen. Dort wollte sie Porzellanwaren für den Gebrauch bei Hofe und als offizielle kaiserliche Geschenke herstellen lassen, die das Beste, was Europa zu bieten hatte, in den Schatten stellen sollten, wie Michail Piotrowski, der Direktor der Eremitage, erklärt:
    «Porzellan wurde ein wichtiger Zweig der russischen Kulturproduktion. Kaiserliches Porzellan aus Russland erlangte Berühmtheit: wunderschöne Teller, die heute auf Auktionen in aller Welt sehr teuer gehandelt werden. Es ist ein gutes Beispiel für die Verbindung der Kunst mit Politik und Wirtschaft, denn das Porzellan war immer ein Medium der Selbstdarstellung für das Russische Reich – abgebildet wurden militärische Motive, Militärparaden, die Lebensfreude des Volkes,Werke aus der Eremitage – alles, was Russland der Welt und sich selbst in schöner Form präsentieren wollte.»
    Das kaiserliche Manufakturzeichen von Zar Nikolaus II. neben dem Hammer-und-Sichel-Emblem des Sowjetstaates.
    Unser Teller demonstriert mit seinem eigenen Mikrokosmos, warum sich die Phrase vom totalen Bruch mit der Vergangenheit nie mit der Wirklichkeit decken konnte: Die Bolschewisten mussten angesichts des Tempos, in dem sich der revolutionäre Umsturz vollzog, bestehende Strukturen übernehmen, so dass in der Sowjetunion weiterhin zaristische Muster nachhallten. Sie waren dazu gezwungen, aber im Fall des Tellers taten sie es freiwillig und bewusst. Auf der Unterseite des Tellers befinden sich zwei Herstellerstempel: unter der Glasur das Zeichen der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur von Zar Nikolaus II. aus dem Jahr 1901, auf der Glasur das Hammer-und-Sichel-Symbol der Staatlichen Porzellanmanufaktur aus dem Jahr 1921. Der Teller, wie wir ihn jetzt sehen, wurde in zwei Schritten hergestellt, in einem Abstand von zwanzig Jahren und unter vollkommen unterschiedlichen politischen Vorzeichen.
    Normalerweise hätte man erwartet, dass das zaristische Zeichen übermalt worden wäre, und das war auch sehr oft der Fall. Aber irgendjemandem muss bewusst gewesen sein, welchen Vorteil es haben würde, wenn beide Stempel zu sehen waren. Es machte den Teller bei Sammlern noch begehrter, so dass er für einen viel höheren Preis ins Ausland verkauft werden konnte. Die Regierungbrauchte dringend Devisen, und der Verkauf von Kunstgegenständen und Sammlerobjekten wie diesem Teller war eine naheliegende Möglichkeit, sie zu beschaffen. In den Unterlagen der Staatlichen Porzellanmanufaktur findet sich denn auch der Vermerk: «Für ausländische Märkte ist das gleichzeitige Vorhandensein der beiden Stempel interessant, und die Preise für solche Objekte werden im Ausland zweifellos höher angesetzt, wenn die früheren Zeichen nicht übermalt sind.»
    So haben wir hier das erstaunliche Phänomen eines sozialistischen Staates vor uns, der Luxusgüter produzierte, um sie an die kapitalistische Welt zu verkaufen. Und das, so könnte man behaupten, ist eigentlich gar kein Widerspruch: Mit dem Gewinn aus dem Verkauf des Tellers wurden die internationalen Bemühungen der Sowjets finanziert, genau die kapitalistischen Gesellschaften zu unterwandern, denen sie ihn verkauft hatten, und überdies verbreitete die auf Porzellan gemalte Propaganda die sowjetische Botschaft unter den Klassenfeinden. «Das Kunstgewerbe», schrieb der Kritiker Yakov Tugenkhold 1923, «ist der fröhliche Rammbock, der die Mauern der internationalen Isolation schon niedergerissen hat.»
    Diese komplizierte symbiotische Beziehung zwischen der Sowjetunion und der kapitalistischen Welt, ursprünglich als notwendiges Übel für die Zeit angesehen, bis der Westen für

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