Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
und an denen er 1966 zu arbeiten begann, in dem Jahr also, in dem der britische Innenminister Roy Jenkins den Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung der Homosexualität in Englandund Wales einbrachte. Veröffentlicht wurden sie im Jahr 1967, in dem das Parlament Jenkins’ Reformgesetz verabschiedete. Damals fanden viele Menschen Hockneys Bild anstößig, und manche empfinden es vielleicht heute noch so, obwohl überhaupt nichts Unanständiges daran ist – beide Männer sind bis zur Taille von der Decke verhüllt. Doch es wirft verblüffende Fragen dazu auf, was eine Gesellschaft für akzeptabel oder inakzeptabel hält, wo die Grenzen der Toleranz und der individuellen Freiheit sind und wie sich das Moralgefüge von Gesellschaften im Laufe der Geschichte verändert hat.
Eine der Konstanten dieser Geschichte ist, kaum verwunderlich, die Sexualität – oder genauer gesagt sexuelle Anziehung und Liebe. Unter den hier vorgestellten hundert Objekten begegnen uns neben der ältesten bekannten Darstellung eines Paares beim Liebesakt, einem vor 11.000 Jahren in der Gegend von Jerusalem gefertigten Steinfigürchen, Haremsfrauen, Göttinnen mit üppigen Formen und gleichgeschlechtlicher Sex auf einem römischen Becher. Ungeachtet der Tatsache, dass die Darstellung der menschlichen Sexualität eine so lange Tradition in unserer Geschichte hat, war David Hockneys eher züchtiges Bild erstaunlicherweise doch eine Provokation, die im Großbritannien seiner Tage einigen Mut erforderte.
Bei den jungen Männern in Hockneys Bild könnte es sich um Amerikaner oder Briten handeln; doch sie wohnen an dem Ort, der dem Bild seinen Titel gegeben hat –
In the Dull Village
, «In dem langweiligen Dorf», wie auch der Titel eines Gedichtes von Konstantinos Kavafis lautet. Das Gedicht handelt von einem jungen Mann, der in seinen Lebensumständen gefangen ist und der Trostlosigkeit seiner Umgebung entflieht, indem er sich einen idealen Liebespartner erträumt. Vielleicht träumt der dösende junge Mann also gerade von diesem leidenschaftlichen Gefährten, der eher ein Produkt seiner Fantasie als der ersehnte Mensch aus Fleisch und Blut ist.
Langweilig ist das Dorf, in dem er wartet –
Heut abend fällt er in sein Bett, nach Liebe krank,
All seine jungen Sinne, in schöner Leidenschaft
Sind sie erregt, der Jugend Leidenschaft
Und tief im Schlaf kommt ihm die Lust: tief
Im Schlaf stellt er den Leib sich vor, hält ihn, den er begehrt.
Konstantinos Kavafis (1863–1933) war in einer weltoffenen Familie aufgewachsen, die abwechselnd in der Türkei, in Großbritannien und in Ägypten lebte und zu der griechischen Diaspora gehörte, die zwei Jahrtausende lang das wirtschaftliche, intellektuelle und kulturelle Leben im östlichen Mittelmeerraum geprägt hat. Er bewegte sich in einer kosmopolitischen griechischsprachigen Welt, die weniger durch das griechische Festland definiert wurde als durch die beiden großen kulturellen Zentren Konstantinopel und Alexandria. Diese Welt war mit der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden, und sie behielt ihre Bedeutung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – eine Welt, der wir in unserer Geschichte schon ein paarmal begegnet sind, namentlich im Stein von Rosette, auf dem die Sprachen der Griechen und der Ägypter einträchtig nebeneinander stehen (Kapitel 33). Kavafis war sich dieses reichen Erbes wohl bewusst, und in seinen in Alexandria entstandenen Gedichten schwingt ein tiefes Gefühl für die Geschichte der Antike und für eine griechische Welt mit, in der die Liebe zwischen Männern ein allgemein anerkannter Teil des Lebens war.
Die Welt, die der junge David Hockney in Bradford erlebte, sah vollkommen anders aus. In Yorkshire war Homosexualität in den 1950er Jahren kein Thema, über das man sprach oder mit dem sich ein Künstler in seinen Werken gefahrlos hätte beschäftigen können. Daher waren die Gedichte von Kavafis, die Hockney in der Stadtbibliothek von Bradford entdeckte, eine Offenbarung für ihn.
«Ich las mehr Gedichte von ihm und war fasziniert von ihrer Direktheit und Schlichtheit; und dann habe ich in jenem Sommer 1960 John Mavrogordatos Übersetzung in der Bibliothek von Bradford entdeckt und das Buch geklaut. Ich bin sicher, ich habe es immer noch. Mittlerweile habe ich kein schlechtes Gewissen mehr, weil es wieder aufgelegt wurde, aber damals konnte man es nicht kaufen, weil es vergriffen war. Wohlgemerkt, das Buch stand nie
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