Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
zum Erstaunen der Anwesenden zu entkleiden!»
Diese Entdeckung war in der Tat ein Grund, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Der Text, der heute weltweit als Sintflut-Tafel bekannt ist, war im 7. Jahrhundert v. Chr. auf dem Territorium des heutigen Irak niedergeschrieben worden, also rund 400 Jahre vor der ältesten erhaltenen Fassung der biblischen Erzählung. War es denkbar, dass die biblische Geschichte keineswegs eine besonders privilegierte Offenbarung war, sondern lediglich Teil eines gemeinsamen Legendenbestands, der im gesamten Nahen und Mittleren Osten verbreitet war?
Es war einer der großen Augenblicke in der radikalen Neuschreibung der Weltgeschichte, die im 19. Jahrhundert erfolgte. George Smith veröffentlichte den Text auf der Tafel nur zwölf Jahre, nachdem Charles Darwins
Über die Entstehung der Arten
erschienen war. Und damit öffnete er eine religiöse Büchse der Pandora. Professor David Damrosch von der Harvard University beschreibt die erdbebenartige Wirkung der Sintflut-Tafel:
«In den 1870er Jahren waren die Menschen besessen von der biblischen Geschichte, und vor allem der Wahrheitsgehalt der biblischen Erzählungen war höchst umstritten. Es war also eine echte Sensation, als George Smith diese frühe Version der Sintflutgeschichte entdeckte, die eindeutig deutlich älter war als die Geschichte in der Bibel. Sogar der britische Premier Gladstone kam in Smiths Vorlesung, in der er seine neue Übersetzung präsentierte, und überall auf der Welt berichteten die Zeitungen auf der ersten Seite über seinen Fund, darunter auch die
New York Times
, die schon damals darauf hinwies, dass man den Text auf zwei ziemlich unterschiedliche Arten lesen könne – beweist er, dass die Bibel recht hat, oder zeigt er, dass alles Legende ist? Smiths Entdeckung lieferte jedenfalls beiden Seiten in der Diskussion über die Wahrheit der Bibel, über Darwin, Evolution und Geologie neue Munition.»
Wie verändert sich die Wahrnehmung eines religiösen Textes, wenn man erfährt, dass er einer älteren Gesellschaft mit gänzlich anderen Glaubensüberzeugungen entstammt? Das fragte ich den obersten Rabbiner Großbritanniens, Sir Jonathan Sacks:
«Hinter beiden Geschichten steht zweifellos ein Kernereignis, eine große Flut, die zum mündlichen Überlieferungsbestand aller Menschen dieser Gegend gehört. Die alten Texte, die Geschichten von der Flut erzählen, berichten im Wesentlichen von den ungeheuren Naturgewalten, die von Göttern gelenkt werden, welche den Menschen nicht besonders wohlgesonnen sind und für die das Prinzip ‹Macht geht vor Recht› gilt. Nun kommt die Bibel daher und erzählt diese Geschichte noch einmal, aber auf einzigartige Weise – Gott schickt die Flut, weil die Welt voller Gewalt war, was zur Folge hat, dass die Geschichte moralisiert wird, und genau das ist Teil des biblischen Programms. Es bedeutet einen radikalen Sprung vom Polytheismus zum Monotheismus – von einer Welt, in der die Menschen Macht verehrten, hin zum Beharren der Bibel darauf, dass Macht gerecht und manchmal barmherzig sein muss, und von einer Welt, in der es viele Mächte, viele Götter gibt, die sich gegenseitig bekämpfen, hin zu dieser Welt, in der das gesamte Universum Ergebnis eines einzigen rationalen Schöpferwillens ist. Je genauer wir also begreifen, wogegen die Bibel sich wendet, desto genauer verstehen wir die Bibel.»
Doch die Sintflut-Tafel war nicht nur religionsgeschichtlich wichtig, sie ist auch ein literaturhistorisches Dokument. Smiths Tafel stammt aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., aber wir wissen heute, dass andere Versionen der Flutgeschichte ursprünglich schon tausend Jahre früher aufgeschrieben worden waren. Erst später wurde die Geschichte von der Sintflut von Geschichtenerzählern in das berühmte Gilgamesch-Epos eingebaut, das erste große epische Gedicht der Weltliteratur. Gilgamesch ist ein Held, der sich auf die große Suche nach Unsterblichkeit und Selbsterkenntnis macht. Er begegnet Dämonen und Ungeheuern, er übersteht alle möglichen Gefahren und am Ende steht er, wie alle späteren Helden von Epen, vor der größten Herausforderung: seinem eigenen inneren Wesen und der eigenen Sterblichkeit. Unsere Tafel enthält nur das elfte Kapitel der Geschichte. Das Gilgamesch-Epos besitzt alle Elemente einer großartigen, spannenden Erzählung, stellt aber auch einen Wendepunkt in der Geschichte der Schrift dar.
Die Anfänge der Schrift im Nahen Osten waren kaum mehr als
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