Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
vier Kästchen unterteilt, und in jedem Kästchen werden die Zeichen – typisch für diese Zeit – von oben nach unten gelesen und von rechts nach links, bevor man zum nächsten Kästchen geht. Die Zeichen sind Piktogramme, Zeichnungen von Dingen, die nur für diese oder eng damit zusammenhängende Dinge stehen. Das Symbol für Bier ist somit ein aufrecht stehendes Gefäß, das unten spitz zuläuft – ein Bild des Behältnisses, das tatsächlich dazu verwendet wurde, die Bierrationen zu lagern. Das Wort für «Ration» wiederum wird graphisch mittels eines menschlichen Kopfes dargestellt, daneben eine Schale, aus der dieser Mensch zu trinken scheint; begleitet werden die Zeichen in jedem der Kästchen von runden und halbrunden Markierungen, die für die Zahl der verzeichneten Rationen stehen.
Nun könnte man sagen, dass es sich hier nicht um Schrift im strengen Sinne des Wortes handelt, sondern dass wir es eher mit einer Art Gedächtnisstütze zu tun haben, mit einem Repertoire an Zeichen, mit deren Hilfe sich recht komplexe Botschaften transportieren lassen. Der entscheidende Durchbruch zur echtenSchrift erfolgte, als man erstmals begriff, dass ein graphisches Symbol wie das für Bier auf der Tafel nicht nur die dargestellte Sache bezeichnen konnte, sondern auch das, wonach das Wort für die Sache klang. An diesem Punkt wurde die Schrift phonetisch, und damit wurden alle neuen Kommunikationsformen möglich.
Als vor gut 5000 Jahren in den fruchtbaren Flussebenen dieser Welt die ersten Städte und Staaten entstanden, bestand eine der Herausforderungen darin, wie man diese neuen Gesellschaften regieren sollte. Wie zwingt man den eigenen Willen nicht nur ein paar hundert Dorfbewohnern auf, sondern Zehntausenden von Städtern? So gut wie alle diese neuen Herrscher erkannten: Will man eine Bevölkerung dieser Größe kontrollieren, braucht man nicht nur militärische Gewalt und eine offizielle Ideologie, sondern man muss Dinge auch aufschreiben können.
Wenn wir an Schrift denken, denken wir an Dichtung oder Fiktion oder Geschichtsschreibung, also an etwas, das man als Literatur bezeichnen könnte. Doch die frühe Literatur war in Wirklichkeit ein Phänomen der Mündlichkeit – sie wurde auswendig gelernt und dann rezitiert oder gesungen. Aufgeschrieben haben die Menschen das, was sie sich nicht merken konnten, was sich nicht in Verse verwandeln ließ. Bei den ersten Schriftsystemen scheint es deshalb so gut wie überall darum gegangen zu sein, Listen anzulegen, Erbsen oder – wie im Falle unseres Täfelchens – Biere zu zählen. Bier war das wichtigste Getränk in Mesopotamien und wurde in Rationen an die Arbeiter ausgegeben. Geld, Gesetze, Handel, Beschäftigung – das ist der Stoff, aus dem die ersten schriftlichen Aufzeichnungen sind, und es ist Schriftlichkeit wie diese hier auf unserer Tafel, die schließlich das Wesen staatlicher Kontrolle und staatlicher Macht verändert. Erst später wechselt die Schrift von den Rationen zu den Emotionen; lange vor den Dichtern waren die Buchhalter da. Wir haben es mit durch und durch bürokratischem Kram zu tun. Ich fragte Sir Gus O’Donnell, den Leiter des British Civil Service, was er dazu meint:
«Diese Tafel ist ein erster Hinweis auf Schrift; sie erzählt jedoch auch von den frühesten Anfängen des Staates. Wir haben es hier mit einem Beamtentum zu tun, das sich allmählich herausbildet und vermerkt, was vor sich geht. Hier bezahlt der Staat eindeutig einige Arbeiter für eine Tätigkeit, die sie geleistet haben. DieBeamten müssen den Überblick über die öffentlichen Finanzen behalten, sie müssen wissen, wie viel bezahlt worden ist: es muss angemessen sein.»
Um 3000 v. Chr. entdeckten die Menschen, welche die verschiedenen Stadtstaaten Mesopotamiens zu regieren hatten, dass man schriftliche Verzeichnisse für alle Arten der alltäglichen Verwaltungsarbeit verwenden konnte, etwa um große Tempelanlagen zu verwalten oder die Wege und Lagerung von Waren verfolgen zu können. Die meisten der frühen Tontafeln im Britischen Museum stammen, wie auch diese hier, aus Uruk, einer Stadt auf etwa halbem Wege zwischen Bagdad und Basra. Uruk war einer der großen, reichen Stadtstaaten Mesopotamiens, die zu groß und zu komplex geworden waren, als dass man sie noch auf rein mündlicher Basis hätte regieren können. Gus O’Donnell erläutert die Hintergründe:
«Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, die sich in einer frühen ökonomischen Phase befindet
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