Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

die Nachwelt beeindrucken.



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Die Sintflut-Tafel
    Tontafel aus Ninive (in der Nähe von Mosul), Nordirak
700–600 v. Chr.
    Die biblische Geschichte von Noah, seiner Arche und der Sintflut ist fester Bestandteil unseres allgemeinen Bewusstseins, und jedes Kind kann einem erklären, dass die Tiere paarweise das rettende Schiff bestiegen. Doch die Geschichte von der Sintflut reicht noch viel weiter zurück als bis zur Bibel und war schon früher in vielen anderen Gesellschaften verbreitet. Was vor allem eine Frage aufwirft: Wir wissen heute von der Flut, weil irgendjemand vor langer Zeit die Geschichte aufgeschrieben hat – doch wann kam überhaupt erstmals die Vorstellung auf, eine Geschichte schriftlich festzuhalten?
    Zu den häufigen Besuchern unseres Hauses gehören Menschen aus Bloomsbury, also aus der unmittelbaren Umgebung des Museums. Vor gut 140 Jahren gehörte zu diesen Stammbesuchern, die meist um die Mittagszeit kommen, ein Mann namens George Smith. Er war Lehrling in einer Druckerei ganz in der Nähe des Museums und fasziniert von der Sammlung alter mesopotamischer Tontafeln. Seine Begeisterung ging so weit, dass er sich die keilförmige Schrift beibrachte, mit der sie beschrieben waren, und schon bald wurde er zu einem der führenden Keilschriftexperten seiner Zeit. Im Jahr 1872 nahm sich Smith eine ganz besondere Tafel aus Ninive (im heutigen Irak) vor, und sie will ich im Folgenden näher beschreiben.
    Die Bibliothek, in der wir die Tontafeln aus Mesopotamien aufbewahren – es sind rund 130.000 –, ist von oben bis unten voll mit Regalen, und in jedem Regalfach steht ein schmales Holzkästchen, in dem sich bis zu zwölf Täfelchen befinden – die meisten davon sind Fragmente. Das Stück, für das sich Smith 1872 besonders interessierte, ist rund 15 Zentimeter groß und aus dunkelbraunem Ton;es ist eng beschrieben mit Text, der sich auf zwei Spalten verteilt. Von fern betrachtet sieht es ein wenig aus wie die Kleinanzeigenseite einer altmodischen Zeitung. Ursprünglich dürfte die Tafel rechteckig gewesen sein, aber irgendwann in früheren Zeiten sind Teile abgebrochen. Doch als George Smith herausgefunden hatte, worum es sich bei diesem Fragment tatsächlich handelte, erschütterte das eine der berühmtesten Geschichten des Alten Testaments in ihren Grundfesten und warf prinzipielle Fragen über die Rolle der Bibel und ihr Verhältnis zur Wahrheit auf.
    Unsere Tafel handelt von einer Flut – von einem Mann, dem sein Gott befiehlt, ein Schiff zu bauen und die eigene Familie sowie Tiere an Bord zu bringen, denn eine große Flutwelle werde die Menschheit von der Erde tilgen. Die Geschichte auf der Tafel kam George Smith seltsam bekannt vor, und als er sie las und entzifferte, wurde ihm klar, dass er einen alten Mythos vor sich hatte, welcher der biblischen Geschichte von Noah und seiner Arche ähnelte und ihr vor allem zeitlich voranging. Zur Erinnerung seien hier zunächst ein paar Sätze der Geschichte aus der Bibel zitiert:
    «Mache dir eine Arche … Und von allem Lebendigen, von allem Fleische, zwei von jeglichem sollst du in die Arche bringen, um sie mit dir am Leben zu erhalten … Denn in noch sieben Tagen, so lasse ich auf die Erde regnen vierzig Tage und vierzig Nächte und werde vertilgen von der Fläche des Erdbodens alles Bestehende, das ich gemacht habe.» (Genesis 6:14–7:4)
    Und hier ein Auszug aus dem, was George Smith auf der Tafel entzifferte:
    «Reiß ab das Haus und bau ein Schiff! Lass fahren Reichtum, dem Leben jag nach! Besitz gib auf, dafür erhalt das Leben! Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff! Das Schiff, welches du erbauen sollst, dessen Maße sollen abgemessen sein, gleich seien ihm Breite und Länge. Du sollst es bedachen, wie der Ozean darunter, und auf euch lässt er dann Überfluss regnen.»
    Dass eine biblische Geschichte aus dem Alten Testament bereits auf einer Tontafel aus Mesopotamien berichtet wurde, das war denn doch eine erstaunliche Entdeckung – das wusste auch Smith, wie ein zeitgenössischer Bericht belegt:
    «Smith nahm die Tafel und begann die Zeilen zu entziffern, die der Konservator, welcher die Tafel gesäubert hatte, zutage gefördert hatte; und als er sah, dass sieden Teil der Legende enthielten, den er zu finden gehofft hatte, sagte er: ‹Ich bin der erste Mensch, der das nach 2000 Jahren in Vergessenheit liest.› Er legte die Tafel auf den Tisch, sprang auf, lief in einem Zustand großer Erregung durch den Raum und begann sich