Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
nicht in Hieroglyphen abgefasst, sondern in einer besonderen Form kritzeliger administrativer Kurzschrift, die viel schneller und viel einfacher zu schreiben ist.
Teil des Rhind-Papyrus, der zeigt, wie man die Fläche eines Dreiecks berechnet.
Seinen Namen verdankt der Papyrus einem Anwalt aus Aberdeen, Alexander Rhind, der in den 1850er Jahren die Wintermonate in Ägypten verbrachte, weil die trockene Hitze sein Tuberkuloseleiden linderte. Dort, in Luxor, kaufte er diesen Papyrus, der sich dann als der umfangreichste mathematische Text des Altertums erwies, den wir kennen, nicht nur aus Ägypten, sondern aus der gesamten antiken Welt.
Weil er höchst empfindlich gegen Feuchtigkeit und Licht ist, bewahren wir ihn im Papyrus-Raum des Britischen Museums auf. Dort ist es ziemlich trocken und muffig und vor allem dunkel, also ideal für den Papyrus, der in der Feuchtigkeit verrottet und in hellem Licht ausbleicht. Wir haben versucht, hier in Bloomsbury den Bedingungen in einem antiken ägyptischen Grabmal so nahe wie möglich zu kommen, wo der Papyrus vermutlich den Großteil seines Daseins verbracht hat. Der gesamte Papyrus dürfte im Originalzustand rund fünf Meter lang gewesen sein und war normalerweise auf eine Schriftrolle aufgewickelt. Heute ist er in drei Teile geteilt. Die beiden größten befinden sich im Britischen Museum, zu ihrem Schutz hinter Glas gerahmt (der dritte Teil liegt im Brooklyn Museum in New York). Der Papyrus ist ca. 30 Zentimeter breit, und wenn man genau hinschaut, erkennt man die Fasern der Papyruspflanze.
Die Papyrusherstellung ist aufwendig, aber nicht wirklich kompliziert. Die Pflanze selbst – eine Art Schilfgras, das eine Höhe von bis zu 4,5 Metern erreichen kann – wuchs im Nildelta reichlich. Das Mark des Pflanzenstängels wird in Streifen geschnitten, die eingeweicht und zu Blättern zusammengepresst werden, und diese Blätter werden dann getrocknet und mit einem Stein glattgerieben. Üblicherweise fügen sich die Pflanzenfasern von selbst zusammen, ohne dass man irgendeinen Klebstoff benötigt. Am Ende hat man jedenfalls eine wunderbare Oberfläche, auf die man schreiben kann – Papyrus wurde im gesamten Mittelmeerraum bis vor gut 1000 Jahrenverwendet, und in den meisten europäischen Sprachen geht das Wort für Papier darauf zurück.
Der Papyrus enthält 84 mathematische Aufgaben. Rote Tinte verweist auf den Namen eines Problems oder die Antwort darauf.
Doch Papyrus war teuer – eine fünf Meter lange Rolle wie der Rhind-Papyrus dürfte zwei Kupfer-Deben gekostet haben, genauso viel wie eine kleine Ziege. Wir haben es also mit einem Gegenstand für die Betuchten zu tun.
Warum sollte man so viel Geld für ein Buch mit mathematischen Rätseln ausgeben? Ich glaube, allein schon der Besitz dieser Schriftrolle bedeutete einen ordentlichen Karriereschub. Wollte man im ägyptischen Staat eine ernsthafte Rolle spielen, musste man rechnen können. Eine derart komplexe Gesellschaft brauchte Menschen, die Bauarbeiten überwachen, Zahlungen organisieren, Lebensmittelvorräte verwalten, Truppenbewegungen planen, die Flutpegel des Nil vorausberechnen konnten – und vieles mehr. Um Schreiber zu sein und damit zu den Bediensteten des Pharaos zu gehören, musste man Rechenfertigkeiten nachweisen. Ein zeitgenössischer Autor formulierte es so:
«Damit kannst du Schatz- und Kornkammern öffnen, damit kannst du die Lieferung des Getreide transportierenden Schiffs schon am Eingang zur Kornkammer in Empfang nehmen, damit kannst du an Festtagen die Göttergaben zumessen.»
Der Rhind-Papyrus bringt einem alles bei, was man für eine glänzende Beamtenkarriere wissen muss. Er ist im Grunde ein Paukbuch für die Beamtenprüfungen in Ägypten um 1550 v. Chr. Wie die heutige Ratgeberliteratur, die sofortigen Erfolg verspricht, verfügt er über einen wunderbaren Titel, der in Rot dick auf der ersten Seite steht:
«Die richtige Methode des Rechnens zum Eindringen in die Dinge und zur Kenntnis von allem – Rätseln und allen Geheimnissen.»
Mit anderen Worten: Alles, was man in Mathematik wissen muss. Kauf mich, und du kaufst dir Erfolg.
Die Rechenkünste der Ägypter, die durch Werke wie den Rhind-Papyrus verfeinert wurden, fanden in der gesamten antiken Welt große Bewunderung. Platon beispielsweise drängte die Griechen, es wie die Ägypter zu machen, wo
«die Lehrer die für den täglichen Gebrauch notwendige Anwendung der Zahlen aus ihren Spielen durch die Anpassung derselben an
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