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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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spezifischer Konflikt- und Herrschaftsregion geboren wurde. Es war das größte Landimperium, das es bis dahin je gegeben hatte, und Ergebnis der gewaltigen Kriegsmaschinerie der Assyrer. Kernregion des Assyrerreichs war die fruchtbare Flussebene des Tigris. Sie war ein idealer Ort für Landwirtschaft und Handel, verfügte jedoch nicht über natürliche Grenzen oder Verteidigungslinien, so dass die Assyrer enorme Ressourcen in eine riesige Armee steckten, um die Reichsgrenzen zu sichern, zusätzliche Gebiete zu erobern und potenzielle Feinde in Schach zu halten.
    Lachisch, das heute den Namen Tell ed-Duwer trägt und über 800 Kilometer südwestlich des assyrischen Kernlands, aber nur rund 40 Kilometer südwestlich von Jerusalem liegt, bildete einen wichtigen strategischen Punkt für die Handelsrouten, die Mesopotamien mit dem Mittelmeerraum und dem ungeheuren Reichtum Ägyptens verbanden. Um 700 v. Chr. handelte es sich um eine schwer befestigte, auf einem Hügel gelegene Stadt, nach Jerusalem die zweitwichtigste Stadt im Königreich Juda, dem es – gerade so eben – gelungen war, sich dem Zugriff der Assyrer zu entziehen. Doch in den letzten Jahren des 8. Jahrhunderts v. Chr. begehrte König Hiskias gegen die Assyrer auf, was sich als großer Fehler erwies. Der assyrische König Sanherib mobilisierte seine Streitmacht, führte einen brillanten Feldzug,erobert die Stadt Lachisch, tötete ihre Verteidiger und verschleppte ihre Bewohner. Ein assyrischer Bericht über dieses Ereignis, der sich im Britischen Museum befindet, vermittelt uns Sanheribs Sicht dessen, was geschah, angeblich sogar in seinen eigenen Worten:
    «Hiskia von Juda jedoch, der sich nicht unter mein Joch gebeugt hatte – 46 mächtige ummauerte Städte sowie die zahllosen kleinen Städte ihrer Umgebung belagerte und eroberte ich durch das Anlegen von Belagerungsdämmen, Einsatz von Sturmwiddern, Infanteriekampf, Untergrabungen, Breschen und Sturmleitern. 200.150 Leute, groß und klein, männlich und weiblich, Pferde, Maultiere, Esel, Kamele, Rinder und Kleinvieh ohne Zahl holte ich aus ihnen heraus und zählte sie als Beute.»
    Lachisch war nur eines der Opfer in einer langen Reihe assyrischer Kriege. Seine Geschichte ist freilich besonders faszinierend, weil wir sie auch aus der Perspektive der anderen Seite kennen, nämlich des Alten Testaments. Im Buch der Könige wird berichtet, Hiskias habe sich geweigert, den geforderten Tribut an Sanherib zu entrichten:
    «Daher war der Herr mit ihm; in allem, was er unternahm, hatte er Erfolg. So fiel er vom König von Assur ab und war ihm nicht länger untertan.» (2 Könige 18,7)
    Verständlicherweise verschweigt die Bibel die unstrittige Tatsache, dass Sanherib als Reaktion darauf brutal gegen die Städte Judas vorging, bis Hiskias klein beigeben und zahlen musste.
    Der durchschlagende Erfolg des assyrischen Feldzugs ist in den Darstellungen dieses Flachreliefs festgehalten, das ungefähr zweieinhalb Meter hoch ist. Ursprünglich füllten sie wohl als fortlaufender Fries vom Boden bis zur Decke einen ganzen Raum in Sanheribs Palast in Ninive, nahe dem heutigen Mosul im Irak. Sie dürften einmal hell angemalt gewesen sein, doch auch ohne Farbe stellen sie heute ein erstaunliches historisches Dokument dar – wie ein in Stein gemeißelter Film, ein frühes Hollywoodepos mit Tausenden von Darstellern. Die erste Szene zeigt, wie die Invasionsarmee einmarschiert, dann folgt die blutige Schlacht in der belagerten Stadt, und schließlich landen wir bei den Toten, den Verwundeten und den Kolonnen passiver Flüchtlinge. Am Ende sehen wir,wie der siegreiche König triumphierend über seiner Beute thront: Sanherib, Herrscher des großen Assyrerreichs und Schrecken des antiken Nahen Ostens.
    Belagerungsgerät wird über künstliche Rampen in Stellung gebracht, dahinter folgen Bogenschützen.
    Kriegsgefangene und Flüchtlinge werden aus Lachisch weggebracht.
    Wie der Regisseur jedes guten Propagandafilms stellte der Bildhauer den Feldzug gegen Lachisch als perfekt umgesetzte Militäraktion dar. Die Stadt liegt bei ihm inmitten von Bäumen und Weinbergen, während darunter die assyrischen Steinschleuderer, Bogenschützen und Speerträger marschieren. Im weiteren Verlauf des Frieses brandet Welle auf Welle assyrischer Soldaten gegen die Stadtmauern und überwältigt schließlich die Bewohner. Die nächste Szene zeigt, was nach den Kampfhandlungen geschah. Überlebende fliehen aus der brennenden Stadt und nehmen

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