Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
sein.
Die Mumienbündel anzufertigen – oder anders ausgedrückt: die Elite der Paracas für ihre Bestattung fertig zu machen – umfasste ein ausgeklügeltesRitual. Zunächst wurde der nackte Leichnam mit Schnüren umwickelt, um ihn in einer sitzenden Position zu fixieren. Dann wurden ihm umwickelte Stücke Baumwolle oder gelegentlich Gold in den Mund gesteckt, und größeren Leichnamen wurde eine goldene Maske um die untere Gesichtshälfte gebunden. Anschließend wurde der Tote in ein großes, besticktes Stück Stoff gewickelt – unsere Fragmente müssen von einem solchen Stück Stoff stammen –, und der umhüllte Körper wurde dann aufrecht in einen großen, flachen Korb gesetzt, der Opfergaben wie Muschelketten, Tierfelle, Vogelfedern aus dem Dschungel des Amazonas und Speisen (unter anderem Mais und Erdnüsse) enthielt. Dann wurden Leichnam, Opfergaben und Korb zusammen in mehrere Lagen aus einfachem Baumwollstoff gewickelt, so dass sie ein riesiges, kegelförmiges Mumienbündel bildeten, das mitunter bis zu eineinhalb Meter breit war.
Es lässt sich unmöglich sagen, was unsere gestickten Figuren nun genau darstellen. Da sie offenbar mit gefletschten Zähnen und Klauenhänden durch die Luft schweben, kann man sich leicht vorstellen, dass es sich nicht um Menschen, sondern um Wesen aus der Welt der Geister handelt. Da sie jedoch Dolche und abgeschlagene Köpfe in den Klauen halten, bewegen wir uns möglicherweise im Bereich von Ritualopfern. Wozu dient dieses Töten? Und warum hat man ein Stück Stoff damit bestickt? Wir haben es eindeutig mit einer sehr komplex strukturierten Welt von Glauben und Mythos zu tun, und die Einsätze könnten höher nicht sein. Denn diese Stickereien handeln von Leben und Tod. Mary Frame erläutert das näher:
«Die abgeschlagenen Köpfe, die Wunden, die seltsame Haltung scheinen eine ganze Reihe von Stufen der Verwandlung vom Menschen in den mythischen Vorfahren darzustellen. Blut und Fruchtbarkeit sind offenbar die Themen, die damit verbunden sind. Diese Textilien wirken tatsächlich wie ein Flehen um eine gute Ernte. Das Land in Peru ist knapp – es ist schrecklich trocken dort; die Menschen konzentrierten sich deshalb stark auf Rituale, die für dauerhafte Erträge sorgen sollten. Wasser ist für das Pflanzenwachstum vonnöten – Blut aber gilt als noch viel wirkungsvoller und kostbarer.»
Als 1800 Jahre später die ersten Europäer nach Mittel- und Südamerika kamen, fanden sie Gesellschaften vor, die Blutopfer darbrachten, um den Kreislauf von Sonnenschein und Regen, von Jahreszeiten und Getreideanbau aufrechtzuerhalten.Insofern liefern uns diese vier kleinen Stickereien zumindest ein paar Informationen und können die Grundlage für jede Menge Spekulationen darüber bilden, wie die Menschen der Paracas-Kultur lebten, wie sie starben und woran sie glaubten. Doch darüber hinaus handelt es sich um großartige Leistungen der Vorstellungskraft, um Meisterwerke der Handarbeit.
Fest steht, dass die amerikanischen Gesellschaften der damaligen Zeit, selbst so fortgeschrittene wie die der Paracas, deutlich kleiner waren als die zeitgenössischen Staaten im Nahen Osten und in China, die wir in den vorangegangenen Kapiteln betrachtet haben. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, bis große Imperien wie das der Inkas entstanden.
Doch diese Textilien und Stickereien der Paracas-Kultur, die vor über 2000 Jahren gefertigt wurden, gehören heute zu den weltweit berühmtesten. Sie gelten als Teil des «Gewebes» der Nation, und im heutigen Peru ist man sehr darum bemüht, diese traditionellen Webe- und Stickpraktiken zu neuem Leben zu erwecken, um die heutigen Peruaner direkt mit ihrer antiken, indigenen und vollkommen nicht-europäischen Vergangenheit in Verbindung zu bringen.
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Die Goldmünze des Krösus
Goldmünze, geprägt in der Türkei
Um 550 v. Chr.
«So reich wie Krösus.» Diese und ähnliche Redewendungen gehören seit Jahrhunderten zum Sprachschatz und sind auch heute noch in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Konnotierungen zu hören. Doch wer von denjenigen, die sie verwenden, denkt dabei noch an den ursprünglichen König Krösus, der – bis sein Leben gegen Ende eine andere Wendung nahm – in der Tat sagenhaft reich und, soweit wir wissen, damit auch recht glücklich war?
Krösus war König in Kleinasien, im Westen der heutigen Türkei. Sein Königreich Lydien gehörte zu den neuen Mächten, die vor rund 3000 Jahren überall im Nahen Osten entstanden
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