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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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domestiziert. Die Figuren sind sehr sorgfältig aus einem größeren Kleidungsstück ausgeschnitten, möglicherweise einem Mantel oder einem Cape. Es sind eigenartige Wesen, von ihrer Gestalt her nicht ganz menschlich, denn statt Händen und Füßen haben sie offenbar Klauen und Krallen.

    Auf den ersten Blick könnte man diese Figuren recht lustig finden, wie sie da so durch die Luft zu fliegen scheinen und einen langen Schwanz oder Haarschmuck hinter sich herziehen … aber wenn man genauer hinschaut, wirken sie beunruhigend, denn sie halten eine Art Dolch in Händen und umklammern jeweils einen abgetrennten Kopf. Am beeindruckendsten aber sind gleichwohl die fein gearbeiteten Stickereien und die noch immer leuchtenden Farben, dies Blau und Pink, Gelb und Grün, die so sorgfältig aufeinander abgestimmt sind.
    Diese juwelengleichen Stoffstücke wurden auf der Halbinsel Paracas gefunden, rund 240 Kilometer südlich des heutigen Lima. Auf dem schmalen Küstenstreifen zwischen Anden und Pazifik schuf das Volk der Paracas einige der farbigsten, aufwendigsten und markantesten Textilien, die wir kennen. Diese frühen Peruaner haben offenbar all ihre künstlerische Energie in Textilien gesteckt. Mit Stickereien verzierte Stoffe waren für sie in etwa das, was zur gleichen Zeit die Bronze für die Chinesen war: das am stärksten verehrte Material in ihrer Kultur und das deutlichste Zeichen für Status und Autorität. Diese spezifischen Stoffstücke sind nur deshalb erhalten geblieben, weil sie unter den trockenen Wüstenbedingungen der Paracas-Halbinsel begraben wurden. Aus der gleichen Zeit verfügen wir auch über Textilien aus dem alten Ägypten, da dort, Tausende von Kilometern entfernt, ähnlich trockene klimatische Bedingungen herrschen. Wie die Ägypter mumifizierten auch die Peruaner ihre Toten. Und ebenfalls wie in Ägypten waren Textilien auch in Peru nicht nur dazu gedacht, dass man sie im Alltag trug, sondern man hat damit auch die Mumien bekleidet.
    Die Kanadierin Mary Frame, Expertin für Weberei und Textilien, beschäftigt sich seit über dreißig Jahren mit diesen Meisterwerken aus Peru, und sie erläutert,inwiefern die Herstellung dieser Begräbnisstoffe einer aufwendigen Organisation bedurfte:
    «Einige der Stoffe, die zum Einwickeln der Mumien verwendet wurden, waren riesig – einer war gut 26 Meter lang. Es dürfte ein gesellschaftliches Ereignis gewesen sein, das Garn zur Herstellung dieser Stoffe bereitzustellen. Auf einem einzigen Stück Gewebe können bis zu 500 Figuren platziert sein, und sie sind nach festen Mustern der Farbfolge und Symmetrie organisiert. Der gesellschaft liche Rang spiegelte sich in enormem Maße im Stoff. Alles, was mit Textilien zu tun hatte, wurde kontrolliert – was für Fasern, Farben und Materialien konnten welche Gruppen verwenden? In einer geschichteten Gesellschaft neigte man stets dazu, mit Hilfe von etwas Bedeutsamem wie etwa Textilien den jeweiligen gesellschaftlichen Rang sichtbar werden zu lassen.»
    Wir kennen aus dieser Zeit keine schriftlichen Zeugnisse aus Peru, insofern müssen diese Textilien eine wichtige Rolle als Bildsprache dieser Gesellschaft gespielt haben. Die Farben müssen elektrisierend gewirkt haben vor dem Alltagseinerlei aus Gelb- und Beigetönen, das die Landschaft der sandigen Halbinsel Paracas prägte. Die hellroten Farbtöne gewann man aus den Wurzeln von Pflanzen, während das tiefe Purpur von Weichtieren stammte, die man am Strand gesammelt hatte. Der Hintergrundstoff dürfte aus Baumwolle gewesen sein, die zu Garn gesponnen und gefärbt wurde, ehe sie auf einem Webstuhl gewebt wurde. Figuren wurden zunächst aufgezeichnet, anschließend wurden die Details – wie Bekleidung und Gesichtskonturen – mit verschiedenen Farben ungeheuer präzise eingearbeitet; diese Arbeit war vermutlich jungen Leuten vorbehalten, denn für Stickereien wie diese braucht man ein perfektes Sehvermögen.
    Die Herstellung erforderte wahrscheinlich die Koordination einer Vielzahl von Arbeitskräften mit ganz unterschiedlichen Fertigkeiten – diejenigen, die die Tiere für die Wolle züchteten oder die Baumwolle anbauten, diejenigen, die sich um die Farben kümmerten, und schließlich die vielen, die tatsächlich an den Textilien selbst arbeiteten. Eine Gesellschaft, die in der Lage war, all das zu organisieren, und so viel Energie und Ressourcen für Begräbnisstoffe aufwandte, muss einerseits wohlhabend und andererseits hochgradig strukturiert gewesen

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