Eine glückliche Ehe
trank heißen Tee und weinte wie die anderen, als der Zug gleich hinter der deutschen Grenze hielt und Rote-Kreuz-Schwestern mit heißer Erbsensuppe und Sträußchen aus Tannengrün und Tannenzapfen die Heimkehrer begrüßten.
Morgen stehe ich Irmi gegenüber, dachte er, als der Zug in der Nacht weiterfuhr. Ich habe ihr von Moskau aus schreiben dürfen, und sie haben gesagt, der Brief kommt todsicher rechtzeitig an. Ob sie nach Friedland kommt? Wo liegt das überhaupt? Ob ich sie sofort erkenne? Was sage ich ihr? Der erste Satz ist der wichtigste. Was mache ich, wenn sie mich ansieht und sagt: Sie sind nicht mein Mann Hellmuth Wegener?! Mein Gott, was mache ich dann?!
Der Sonderwagen wurde noch zweimal umgekoppelt, ehe er in Friedland eintraf. Auf dem Bahnsteig drängten sich die Menschen, Zeitungsreporter und Rundfunksprecher bildeten eine Gasse für die Heimkehrer aus Sibirien. Dahinter standen die Wartenden, wie sie seit Tagen oder Wochen hier warteten, Mütter und Väter, Frauen und Bräute. Sie hielten an Stangen befestigte Fotos hoch über ihre Köpfe.
Wer kennt Hermann Schubert? Wer hat Emil Hagemeister gesehen? Wer war mit Willi Damme zusammen? Kennt einer Heinrich Obertz? Namen, Namen, Gesichter von jungen Soldaten, stolz lächelnd vor dem Fotografen. Oder Bilder von früher, in Zivil – vergrößerte, unscharfe Paßfotos, das einzige, was von einem Menschen geblieben war.
Wer kennt Ludwig Meister … wer Holger Müller aus Stuttgart … wer Peter Weinberg … Wer … wer … wer …? Sagt doch etwas, Jungens! Habt ihr meinen Sohn getroffen, irgendwo getroffen? Er lebt doch noch … er muß leben … ich fühle es, daß er lebt …
Wer kennt Hans Funcke …
Hunderte von Augen starrten sie an, bettelnd, flehend, mit letzter Hoffnung, die sich immer wieder von Tag zu Tag erneuern konnte. Augen, in denen alle Liebe, aller Glaube lagen, die ein Mensch empfinden kann.
Sag mir doch einer, daß mein Sohn lebt, daß er ihn gesehen hat … bitte, bitte …
Hellmuth Wegener blickte auf die Gruppe der Menschen, die keine Fotos hochhielten und ihn nicht anriefen. Es waren die Glücklichen, die wußten, daß jetzt gleich das Wunder der Wiedergeburt geschehen würde, die Rückkehr aus dem Totenhaus Sibirien, die Erfüllung aller Gebete.
Und dann sah er sie, erkannte Irmi sofort an ihren blonden Haaren und dem unschuldigen Gesicht. Sie stand in der zweiten Reihe und hob sich auf die Zehenspitzen, um die Jammergestalten, die über den Bahnsteig schwankten, genauer zu sehen.
Er stieß einen Rundfunkreporter zur Seite, der ihn fragte: »Wie sind Ihre ersten Eindrücke in der Heimat?! Von wo in Sibirien kommen Sie her?!« Dann stand er vor ihr, groß und hager, mit einem struppigen Dreitagebart, in einer viel zu kleinen, umgearbeiteten Uniform, aus der seine Arme herauswuchsen, als seien es Polypengreifer. Er nahm seine dreckige Wehrmachtsmütze ab, stopfte sie, weil sie im Weg war, unter den Lederriemen, den er um den Leib geknotet hatte.
»Irmi …«, sagte er. Es kostete Kraft, das zu sagen. »Irmi, da bin ich.«
»Du bist es?« Sie blickte ihn aus weiten Augen an, mit diesen blauen Augen, mit denen er vier Jahre lang gesprochen hatte, die alles von ihm wußten, denen er gebeichtet hatte. Jetzt waren sie vor ihm, ganz nahe und wundervoll blau, und die schmale Nase darunter bebte, und die Lippen zitterten, und dann waren ihre Hände plötzlich da, legten sich auf seine knochigen Schultern und zogen ihn heran.
»Hellmuth!«
»Irmi!«
Sie küßten sich, und dann weinte er, es war unmöglich, dieses Schluchzen aufzuhalten. Er preßte den Kopf gegen ihre Brüste und weinte wie ein Kind, und sie streichelte seinen Nacken, seine Haare, seinen zuckenden Rücken und sagte: »Jetzt bist du ja zu Hause. Jetzt ist alles gut. Jetzt ist alles vorbei. Jetzt wird das Leben schön …«
Er nickte, blieb zwischen ihren Brüsten mit seinem Gesicht und atmete den Duft ihres Körpers ein. Zu Hause. Das neue Leben. Der neue Hellmuth Wegener. Verheiratet seit Juni 1944 mit dieser wundervollen Frau.
Sie wird es nie erfahren, wie es war. Nie! Ist der Mensch nur ein Name? Wir werden das glücklichste Paar auf dieser Welt sein, Irmi.
Später, nach den notwendigen Formalitäten und einem Interview für den Rundfunk, in dem Wegener berichtete, es gebe noch viele Gefangenenlager in Sibirien und anderswo in Rußland, war er endlich ein freier Mann und ging am Arm von Irmi aus der Entlassungsbaracke. Überall standen Holzwände mit
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