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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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mit dem Sie rechnen.«
    »Wie konnte Massinger das wissen?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das hat er mir nicht verraten. Er hat mich nur darauf hingewiesen, dass Sie sich vielleicht verkleiden würden. Gratuliere übrigens – niemand hätte Sie erkannt.«
    »Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Lysander dachte kurz nach. »Was machen Sie eigentlich hier?«
    »Massinger wollte sichergehen, dass Sie ungeschoren davonkommen. Er hat mich gebeten, Sie unauffällig zu beschützen. So komme ich in den Genuss eines schönen Ausflugs und fahre nachher mit dem Dampfer nach Genf zurück.«
    »Wie haben Sie das gemeint, als Sie mir schrieben, dass ›alle ernstlich besorgt‹ sind?«
    »Manfred Glockner ist tot.«
    »Was?«
    »Er hatte einen Herzinfarkt. Als man ihn bewusstlos in seiner Wohnung auffand, wurde er sofort ins Krankenhaus gebracht – aber es war schon zu spät.«
    Lysander schluckte. Großer Gott.
    »Wissen Sie vielleicht, was zu seinem Tod geführt haben könnte?«, fragte sie ihn beiläufig.
    »Als ich ging, war er noch bei bester Gesundheit«, antwortete Lysander aufs Geratewohl, während er gleichzeitig an das Drahtgeflecht des Topfkratzers dachte, den elektrischen Strom … »Ich gab ihm das Geld, er zählte es nach, dann hat er mir den Codeschlüssel verraten und ich bin gegangen.«
    Madame Duchesne sah ihn durchdringend an.
    »Das Geld wurde in seinem Aktenkoffer gefunden«, sagte sie.
    »Woher wissen Sie das?«, entgegnete er.
    »Ich habe einen Kontaktmann bei der deutschen Botschaft.«
    »Wen?«
    »Einen Mann, dessen Post ich geöffnet habe. Darunter waren Fotographien, die er lieber geheim halten wollte. Ein paar habe ich aufgehoben, um ihn bei Bedarf an unsere Abmachung zu erinnern. Also ist er immer sehr auskunftsfreudig, wenn ich etwas in Erfahrung bringen möchte.«
    Lysander stand auf und ging zur Reling. Obwohl ihm bewusst war, dass er allergrößte Vorsicht walten lassen musste, konnte er sich nicht so recht erklären, warum er sie auf Anhieb belogen hatte. Er blickte über den stillen See hinweg auf die französische Seite – die Berge wurden wieder höher, und ihm fiel ein eher kleines, aber vollendet schönes Schloss unmittelbar am Wasser auf.
    Madame Duchesne stellte sich zu ihm, so dass er ihr Profil bewundern konnte, während sie das allmählich näher rückende Ufer fixierte. Den makellosen Bogen ihrer kleinen Nase, die an einen Vogelschnabel erinnerte. Als sie tief einatmete, bebten ihre Nasenflügel, und ihre Brust hob sich. Sie hatte wirklich etwas an sich, das ihn reizte, sie –
    »Ein wunderschönes Schloss – das Château de Blonay«, erklärte sie. »Dort würde ich zu gern wohnen.«
    »Könnte ein bisschen einsam werden.«
    »Ich habe ja nicht gesagt, dass ich dort allein wohnen möchte.« Sie wandte sich Lysander zu. »Welcher Schlüsseltext liegt dem Code zugrunde? Hat Glockner Ihnen den Text gegeben?«
    »Nein. Ich habe ihn im Kopf. Glockner hat mir das Prinzip erläutert – es ist ganz simpel.«
    »Welcher Text ist es nun?«
    »Die Bibel – auf Deutsch«, antwortete Lysander. Er hätte nie damit gerechnet, dass sie ihn so unverblümt danach fragen würde. »Der Trick ist nur, dass die erste Zahl nicht der Seitenzahl entspricht. Es handelt sich um eine zweifache Verschlüsselung. Man muss eine Zahl addieren oder subtrahieren, um die richtige Seite zu finden.«
    »Das soll der Trick sein? Ist das nicht eine Spur zu kompliziert?« Sie runzelte skeptisch die Stirn. »Welche Zahl muss man nun wie einsetzen?«
    »Das sollte ich Ihnen wohl besser nicht verraten.«
    »Massinger wird es bestimmt wissen wollen.«
    »Ich sage es ihm, wenn wir uns sehen.«
    »Mir wollen Sie es aber nicht sagen?«
    »Was in den Briefen steht, ist äußerst heikel.«
    »Sie vertrauen mir nicht«, sagte sie mit unergründlicher Miene.
    »Doch. Aber manchmal ist es ratsam, möglichst wenig zu wissen. Ich will Sie nur schützen.«
    »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, antwortete sie. »Wenn Sie das gesehen haben, vertrauen Sie mir vielleicht eher.«
    Sie führte ihn die Treppe hinab durch eine Tür und dann noch ein paar Stufen nach unten. Das Stampfen und Drehen der Dampfmaschinen wurde lauter, als sie durch ein Schott auf das nächste Deck hinunterstiegen.
    »Wo gehen wir hin?« Lysander sprach nun lauter.
    »Ich habe eine kleine Kabine gebucht, hier unten.«
    Sie befanden sich in einem schmalen Durchgang. Er musste praktisch schreien, um sich Gehör zu verschaffen: »Hier sind keine

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