Eine große Zeit
unternahmen. Dabei trank er zu viel Wein, so dass sich seine neue Zielstrebigkeit allmählich auflöste, während er durch die Straßen lief. Jäh wurde ihm bewusst, dass er an diesem Sonntagmorgen in Genf einen Mann gefoltert und ihm Informationen abgepresst hatte. Was war nur mit ihm los? Wie konnte er sich in einen solchen Unmenschen verwandeln? Doch dann fragte er sich, ob »Folter« wirklich das richtige Wort war. Schließlich hatte er Glockners Kopf nicht zu Brei geschlagen; er hatte ihm nicht die Genitalien zerquetscht oder die Fingernägel ausgerissen. Außerdem hatte er ihn vorgewarnt, hatte ihm immer wieder Gelegenheit gegeben, von sich aus den Mund aufzumachen … Dennoch musste Lysander sich eingestehen, dass er verstört war – ihn verstörte sein eigener Einfallsreichtum, seine schnelle Reaktionsfähigkeit. Vielleicht lag es daran, dass kein Blut – und auch kein Schleim, Urin oder Kot – geflossen war, dass es ihm so leichtfiel, sich mit seinem … Er suchte nach einem passenden Ausdruck – Kunstgriff – , sich mit seinem Kunstgriff abzufinden. Was er getan hatte, ähnelte eher einem Experiment in einem Chemielabor als der vorsätzlichen Folter eines Mitmenschen … Aber dann ermahnte ihn wieder eine andere Stimme, er solle nicht so dämlich und überempfindlich sein: Er stehe unter Befehl, habe eine Mission erfüllen müssen, und die Erkenntnisse, die er dank seines raffinierten, beherzten und zugegebenermaßen brutalen Vorgehens gewonnen habe, seien äußerst kriegswichtig und könnten unter Umständen unzählige Menschenleben retten. Das war nicht von der Hand zu weisen. Schließlich hatte man ihm unmissverständlich bedeutet, er solle seine Pflicht als Soldat tun – und genau das hatte er getan.
Der Nachtportier des Hôtel Touring öffnete ihm nach Mitternacht verschlafen und unwillig die Tür. So erschöpft Lysander sich fühlte, als er in sein Zimmer hinaufging, war er sicher, dass ihm keine Minute Schlaf vergönnt sein würde, da seine Gedanken nach wie vor unaufhörlich rasten. Dazu trug nicht zuletzt die Nachricht bei, die man ihm unter die Tür geschoben hatte. Auf dem Umschlag war zwar kein Absender angegeben, aber er riss ihn trotzdem gleich auf, denn er wusste, von wem die Nachricht kam.
»Dein Bruder Manfred ist schwer krank. Du musst sofort nach Hause fahren. Alle sind ernstlich besorgt .«
Das konnte nur von Florence Duchesne stammen. Manfred – woher wusste sie, was mit Glockner los war? Und was hatte dieses dick unterstrichene »besorgt« zu bedeuten? Lysander legte sich in seiner Straßenkleidung aufs Bett und dachte darüber nach, wie er am nächsten Tag verfahren sollte – um das, was von ihm erwartet wurde, mit dem in Einklang zu bringen, was für ihn am besten war. Als bei Sonnenaufgang das erste Licht durch die Vorhänge drang, lag er immer noch wach.
Um sieben Uhr früh stand Lysander als Dritter in der Schlange vor dem Hauptpostamt in der Rue du Mont-Blanc. Das gewaltige, überaus repräsentative Gebäude wirkte mehr wie ein Museum oder Staatsministerium denn wie ein Postamt. Als es seine Tore öffnete, begab sich Lysander zum erstbesten Schalter in der weitläufigen Gewölbehalle und gab gleich ein langes Telegramm an Massinger in Thonon auf.
HABE DEN SCHLÜSSEL STOP BESTÄTIGT VERMUTUNG DASS IM HAUPTMOTOR EINE MASSIVE STÖRUNG VORLIEGT STOP RATE DRINGEND VON AUSFLÜGEN IN NAHER ZUKUNFT AB STOP KOMME 16.40 IN ÉVIAN LES BAINS AN STOP
Der letzte Glockner-Brief war gut zwei Wochen zuvor abgefangen worden. Man durfte davon ausgehen, dass die dort gemachten Angaben zum Materialnachschub sämtliche Angriffe betrafen, die im Spätsommer erfolgen sollten. Wo und wie die Herbstoffensive ungefähr stattfinden würde, war für den Feind nun ein offenes Geheimnis.
Lysander gab außerdem auch den an ihn adressierten Brief nach Claverleigh Hall auf und verließ das Postamt um 7.20Uhr. Der erste Expressdampfer, der die Rundfahrt über Nyon, Ouchy, Montreux und Évian absolvierte, legte um 9.15Uhr ab. Madame Duchesnes Nachricht vom Vorabend ließ darauf schließen, dass Anlegestellen und Bahnhöfe möglicherweise überwacht wurden – ihm blieben knapp zwei Stunden, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.
5. Tom of Bedlam
Unter Deck schloss er sich in der Herrentoilette ein und stellte den Sack sowie den Stuhl ohne Sitzfläche ab. Dann setzte er sich auf das Klosett, zog mit einem Seufzer der Erleichterung seine Schuhe aus und kippte die Kieselsteine weg. Anschließend
Weitere Kostenlose Bücher