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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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wusch er sich die Vaseline von der Oberlippe und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzgeschnittenen Haare, um sie einigermaßen zu glätten und zu bändigen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass er die Schere zu weit oben angesetzt hatte.
    Nach dem Gang zur Post hatte Lysander alle anderen nötigen Besorgungen erledigt, sobald die entsprechenden Läden in der Rue du Mont-Blanc öffneten. Zunächst erstand er einen Wäschesack aus grobem Leinen, in den er den Regenmantel und die Schiebermütze stopfte – den Pappkoffer hatte er zusammen mit seiner restlichen Kleidung im Hotelzimmer zurückgelassen, Abelard Schwimmer hatte dafür keine Verwendung mehr. Danach kaufte er in der Apotheke einen Tiegel Vaseline und eine Haarschere, suchte dann ein Möbelgeschäft auf, wo er nach einigem Suchen einen billigen Küchenstuhl aus Kiefernholz mit einer Sitzfläche aus geflochtenem Stroh fand. Wie der Stuhl aussah, spielte keine Rolle – auf den Strohsitz kam es an. Um 8.30 Uhr hatte er den Fluss bereits wieder überquert und sich im Jardin Anglais in einer ruhigen Ecke auf eine Bank gesetzt, um das Geflecht aufzutrennen und die Strohstreifen zu entwirren. Er band die Streifen zu einem lockeren Achtknoten, den er an die Stuhllehne befestigte. Die Requisite hatte er nun – fehlte nur noch das Kostüm.
    Sein Einfall – die Eingebung – stammte von einer Rolle, die sein Vater einst verkörpert hatte und die Lysander in Erinnerung geblieben war: Halifax Rief als Armer Tom, Tom of Bedlam, der verkleidete Edgar, der Wahnsinnige, dem König Lear während des Sturms begegnet. Um Toms Wahnsinn zu veranschaulichen, hatte sein Vater die Haare mit Achsenfett zu Stacheln geformt, sich außerdem noch die Oberlippe eingefettet und seine Schuhe mit spitzen Kieseln gefüllt. Der Verwandlungseffekt war enorm – da er nicht mehr in der Lage war, normal oder schmerzfrei zu laufen, war sein Gang zugleich schwankend und ruckartig, und das verschmierte Fett wirkte wie Rotz aus einer unaufhörlich laufenden Nase. Die wirren, unfassbar fettigen Haare trugen zum dreckigen und ungepflegten Gesamteindruck bei. Eine abgerissene Jacke machte die Metamorphose perfekt.
    So weit konnte Lysander nicht gehen, aber zumindest in diese Richtung. Er nahm ein paar runde Steinchen vom Kiesweg und steckte sie in seine braunen Schuhe, die er lose zuband, nachdem er die Schnürsenkel herausgenommen und nur teilweise wieder eingefädelt hatte. Dann knöpfte er die Ärmel seiner Sergejacke auf und rollte sie bis zu den Ellbogen hoch, so dass die offenen Hemdmanschetten heraushingen. Er knöpfte die Jacke falsch zu, damit das Revers aufklaffte. Die Krawatte steckte er in die Tasche, bevor er sich die Haare büschelweise abschnitt und mit Vaseline einschmierte. Er vergaß auch nicht, sich einen dicken Vaselinetupfer unter die Nase zu setzen. Zu guter Letzt packte er den Stuhl ohne Sitzfläche, warf sich die Strohschlinge über eine Schulter, den Leinensack über die andere und lief schlurfend und humpelnd zur Mole, wo der Dampfer lag. Man würde ihn wohl für einen armen, geistesschwachen Vagabunden halten, der als Möbelflicker ein paar Centimes verdiente.
    Lysander fielen weder Polizisten noch offenkundige Zivilfahnder auf, die die kleine Warteschlange im Auge behielten. Die meisten ließ er vorgehen, ehe er selbst mühsam die Gangway erklomm, seine Fahrkarte vorzeigte und sogleich einen der Heckplätze in Beschlag nahm, mit gesenktem Kopf vor sich hin murmelnd. Wie erwartet, wollte sich niemand in seine Nähe setzen. Einen Pass musste er nicht vorweisen, weil die Rundfahrt abends wieder in Genf endete. Massinger hatte sein Telegramm inzwischen bestimmt erhalten und konnte sich in aller Ruhe nach Évian aufmachen, um seine Ankunft dort abzupassen. Anschließend könnte Lysander ihn über den wesentlichen Inhalt der Glockner-Briefe unterrichten. Der Zuträger im Kriegsministerium dürfte infolgedessen bald enttarnt werden – nur wenige hatten Zugang zu einer solchen Informationsfülle.
    Als die Maschinen unter Deck, direkt unter seinen Füßen, zu dröhnen und vibrieren begannen, jubelte er innerlich kurz auf. Er hatte es geschafft – es war nicht leicht gewesen, ganz im Gegenteil, aber er hatte die ihm aufgetragene Mission erfüllt. Was konnte man mehr verlangen?
    Der Dampfer legte ab und glitt auf den See hinaus. Der Morgenhimmel war zwar bedeckt, nur vereinzelt blitzte das Blau hervor, doch dann brach die Sonne durch, und die Wasseroberfläche glitzerte

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