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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Kabinen!«
    »Doch, gleich um die Ecke, Sie werden sehen!«
    Als sie um die Ecke bogen, standen sie vor einer Tür mit dem Schild Défense d’entrer . Daneben schwang sich eine steile Metallstiege zu den oberen Decks empor. Offenbar standen sie direkt über dem Maschinenraum.
    »Einen Moment!«, rief sie und wühlte in ihrer Handtasche. Dann holte sie ihren kleinen Revolver mit dem kurzen Lauf hervor und richtete ihn auf Lysander.
    »Was soll das! Nein!«, brüllte er vollkommen entgeistert. Reflexartig hob er die linke Hand, ein vergeblicher Versuch, sich zu schützen.
    Der erste Schuss verfehlte sein Ziel und traf ihn im linken Oberschenkel. Die schiere Wucht ließ ihn schwanken, obwohl er nichts spürte. Der zweite, unmittelbar danach abgefeuerte Schuss brach durch seine erhobene Handfläche, er spürte den Einschlag, als die Kugel seine linke Schulter traf, es war wie ein Fausthieb, der ihn zur Seite kippen ließ, so dass der dritte Schuss ihm in die Brust knallte.
    Schwerfällig sank Lysander zu Boden und hörte die Stiege klappern, als Madame Duchesne die Stufen hinaufeilte. Er stemmte sich auf den Ellbogen und wurde mit dem erschütternden Anblick seines eigenen leuchtend roten Blutes konfrontiert, das aus seinen Wunden floss und unter ihm allmählich eine Pfütze bildete, bevor er auf den Boden zurückfiel und am ganzen Körper taub wurde, während er das fröhlich schnaufende Fuuut-Fuuut! der Dampfpfeife vernahm, die von der Ankunft am sonnigen, belebten Hafen von Évian-les-Bains kündete.

TEIL VIER
    LONDON 1915

1. Autobiographische Untersuchungen
    Einen Vorzug hat das Ganze: Ich wurde endlich zur Universität von Oxford zugelassen. Nun bin ich im Somerville College an der Woodstock Road und bekomme eine Art Campusleben vorgegaukelt. Obwohl sich mein Zimmer in einem reinen Frauencollege befindet, gibt es weit und breit keine Frauen, abgesehen von den Krankenschwestern und vom Hauspersonal. Die Studentinnen wurden für die Dauer des Krieges in das Oriel College umquartiert. Hier sind wir Männer unter uns, lauter Offiziere, die in Frankreich und auf anderen Schlachtfeldern verwundet wurden und die unterschiedlichsten Versehrungen davongetragen haben – manche bieten einen schockierenden Anblick (bei den mehrfach Amputierten, den Verbrennungsopfern), andere sind hingegen unsichtbar, wie im Fall der katatonen Opfer von Psychosen, die durch Kanonenlärm und Szenen unmenschlicher Brutalität ausgelöst wurden. Somerville ist jetzt Teil des 3. Southern General Hospital, wie der neue Name des Radcliffe-Krankenhauses lautet, das einige hundert Meter weiter oben an der Woodstock Road liegt.
    Florence Duchesne hat drei Mal auf mich geschossen und mir dabei sieben Wunden zugefügt. Mit der letzten fange ich an. Die dritte Kugel, die sie zum Schluss abgefeuert hat, drang mir durch die Brust, weit oben rechts, sie trat fünf Zentimeter unterhalb des Schlüsselbeins ein und trat oberhalb des Schulterblatts wieder aus. Die zweite Kugel jagte durch meine linke – vergeblich zum Schutz erhobene – Hand und sauste unbeirrt weiter durch den Muskel meiner linken Schulter. Ich weiß noch, wie ich – im Bruchteil einer Sekunde – das Blut wie eine Blume aus meinem Handrücken sprießen sah, als die Kugel herausschoss. Die Narbe ist zwar gut verheilt, aber mir bleiben die Stigmata erhalten – das eine inmitten der Handfläche und das andere auf dem Handrücken, runzlige braunrosa Plaketten in Sixpence-Größe. Die erste Kugel war in gewisser Hinsicht ein Fehlschuss – jedenfalls hat Florence Duchesne zu tief gezielt, so dass ich am linken Oberschenkel getroffen wurde; die Kugel stieß auf ein Häufchen Kleingeld in meiner Hosentasche und trieb einige Münzen tief in den geraden Oberschenkelmuskel. Der Wundarzt erzählte mir später, er habe vier Franc und siebenundsechzig Centime herausgezogen – er überreichte sie mir in einem kleinen Umschlag.
    Die Kugel, die mich in die Brust traf, führte zum Lungenkollaps. Außerdem dürfte sie für den hohen Blutverlust verantwortlich gewesen sein, den ich mit eigenen Augen gesehen habe, bevor ich das Bewusstsein verlor. Ich habe das Glück – falls das bei multiplen Schussverletzungen der richtige Ausdruck ist – , dass sechs der sieben Wunden durch eine wieder austretende Kugel verursacht wurden. Allein die Handvoll Kleingeld verwehrte den Austritt, so dass mein Oberschenkel mir immer noch Schmerzen bereitet – ansonsten geht es mir wieder viel besser. Seinetwegen hinke ich

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