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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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derart, dass es Lysander in den Augen weh tat. Er zog sich in den Schatten des Vordachs zurück. Bald fuhren sie unter Volldampf auf Nyon zu, und er hatte das Gefühl, seine Verkleidung nun gefahrlos ablegen zu können.
    Nachdem er sich in der Herrentoilette so gut wie möglich gesäubert hatte, zerlegte er den Küchenstuhl mit Hieben und Tritten in Stücke. Danach stopfte er die splittrigen Kiefernlatten sowie das Strohbündel in den dunklen, leeren Schrank unter den beiden Waschbecken. Er zog den Regenmantel und die Schiebermütze an, rückte vor dem Spiegel noch seine Manschetten zurecht und knöpfte die Jacke richtig zu. So konnte er sich sehen lassen – ein Tourist, der sich wie so viele andere eine Seerundfahrt gönnte. Den leeren Leinensack warf er ebenfalls in den Schrank, seine Habseligkeiten hatte er in den Taschen verstaut. Zum Schein betätigte er die Spülung, bevor er die Tür entriegelte.
    Nach Nyon ließ der Dampfer das Ufer weit hinter sich und fuhr mitten über den See nach Ouchy, dem Hafen von Lausanne. Von dort aus fuhr er direkt nach Vevey und dann im Bogen Richtung Westen, wobei Montreux und die bewaldeten Hügel gleich in den Blick rückten, während hinter der breiten Rhônemündung in der Ferne die gezackten Spitzen der Dents du Midi aufragten.
    Lysander lief wieder zum Heck und lehnte sich über die Reling. Er sah zu, wie Genf mit der sanften Hügelumgebung und den Bergen im Hintergrund immer weiter zurückwich. Auf dem See waren ein paar der berühmten Genfer Barken unterwegs, flache, offene Zweimaster mit aufgeblähten, dreieckigen Segeln, die ein Eigenleben zu führen schienen. Aus manchen Blickwinkeln wirkten sie wie riesige Schmetterlinge, die sich zwischendurch zum Trinken auf dem Wasser niedergelassen hatten, ohne einen Flügel zu regen. Lysander verfolgte ihr träges Dahingleiten, während er einen Moment abwartete, in dem kein anderer Passagier in Sicht war. Dann warf er seinen kleinen Revolver rasch über Bord und drehte sich um. Keiner hatte etwas bemerkt. Lysander entfernte sich vom Heck.
    An jedem anderen Tag hätte er die herrliche Aussicht genossen, doch nun lief er pausenlos auf und ab, von einem Deck zum anderen, und dachte über alles Mögliche nach. Hinter dem hohen schmalen Schornstein befand sich ein kleiner verglaster Salon, in dem Imbisse und Erfrischungen serviert wurden, aber er hatte keinen Hunger. Tatsächlich bekam er auf einmal seine Müdigkeit zu spüren, die Anspannung der letzten vierundzwanzig Stunden hatte ihn restlos erschöpft. Lysander stieg ein paar Stufen zu einem kleinen Sonnendeck hinauf, das der Brücke vorgelagert war, und mietete beim Steward für zwei Franc einen Liegestuhl. Dort ließ er sich nieder und zog sich die Mütze über die Augen. Vielleicht würde er so ein bisschen dösen können, wenn er schon keinen Schlaf fand – er wollte sich nur ein wenig ausruhen.
    Lysander träumte von Hettie, sie rannte durch einen weitläufigen, verwilderten Garten und hielt einen kleinen, dunkelhaarigen Jungen an der Hand. Waren sie etwa auf der Flucht – oder spielten sie nur? Jäh fuhr er aus dem Schlaf hoch und versuchte, sich die Gesichtszüge des kleinen Jungen in Erinnerung zu rufen. Konnte es sein, dass er Lothar im Traum begegnet war – seinem Sohn, den er noch nie zu sehen bekommen hatte, nicht einmal auf einem Foto? Allerdings war Lothar erst ein Jahr alt – der Junge im Traum hingegen vier oder fünf. Es konnte nicht sein –
    »Sie haben fast zwei Stunden geschlafen.«
    Er riss den Kopf herum.
    Knapp einen Meter von ihm entfernt saß Florence Duchesne in einem Liegestuhl, wie üblich in Schwarz gewandet. Auf dem Kopf trug sie einen Samtschlapphut, den sie mit einem Chiffonschal festgebunden hatte.
    »Mein Gott, Sie haben mir aber einen Schrecken eingejagt. Ich habe geträumt.«
    Lysander setzte sich auf und versuchte, sich zu orientieren. Die Sonne stand tiefer am Himmel, die Berge auf der linken Seite waren niedriger. Frankreich?
    »Wo sind wir?«
    »In einer Stunde sind wir in Évian-Les-Bain.« Sie sah ihn an – er glaubte, die Spur eines Lächelns zu erkennen.
    »Ich hätte Sie fast übersehen«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wären gar nicht an Bord gegangen. Dabei hatte ich Sie durchaus bemerkt – mit dem Stuhl und dem Sack, dem merkwürdigen Humpeln. Und dann, just als der Dampfer abfuhr, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Massinger hatte mich ja vorgewarnt: Passen Sie gut auf, er wird ganz anders aussehen als der Mann,

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