Eine große Zeit
hatte Männer erlebt, die sich wegen eines gebrochenen Fingers die Seele aus dem Leib schrien, während ich in meinem Blut dalag und nichts anderes fühlte als eine Art Prickeln, wie von winzigen Nadelstichen.« Zum Abschied drückte er mir fest die Hand. »Bin froh, dass du wieder bei uns bist, mein Junge. Mein lieber, tapferer Junge.«
Heute Abend bin ich nach St. Giles gewandert, bis zum Martyrs’ Memorial und wieder zurück – die längste Strecke, die ich seit Genf zurückgelegt habe. Auf dem Heimweg habe ich in einem Pub ein Viertel Cider getrunken. Ich wurde komisch angesehen – vielleicht, weil meine Blässe und mein Gehstock vom »Opfer« zeugen, das ich gebracht habe. Ständig vergesse ich, dass ich ein Offizier in Uniform bin (Munro hat mir eine neue Ausstattung zukommen lassen). Leutnant Lysander Rief, E.S.L.I., der seine Kriegsverletzungen auskuriert. An diesem warmen Spätsommerabend wirkte St. Giles mit dem uralten, rußgeschwärzten College auf der einen und dem Ashmolean Museum auf der anderen Seite so zeitlos wie berückend – natürlich mit Ausnahme der Automobile und Handwerker-Lastwagen – , so dass ich ein wenig neidisch war auf alle, die das Glück hatten, hier zu leben und zu studieren. Für mich ist es leider zu spät.
Am Nachmittag saß ich auf einer Bank in der Sonne, unweit der Pförtnerloge, und las Zeitung, als eine Krankenschwester mich ansprach: »Ah, da sind Sie ja, Mr Rief. Jemand möchte Sie besuchen, er war schon in Ihrem Zimmer, aber wir konnten ihm nicht sagen, wo Sie sind.« Und dann trat Massinger in Erscheinung, er trug Zivil.
Er setzte sich zu mir auf die Bank, äußerst angespannt, und wagte es offenbar kaum, mir in die Augen zu sehen.
»Ich habe Ihnen ja noch gar nicht richtig gedankt«, sagte ich, um das Eis zu brechen. »Dafür, dass Sie mich so schnell nach Rouen befördert haben, mit eigenem Krankenwagen und allem Pipapo. Ich hätte mir keine bessere Pflege wünschen können.«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Rief«, antwortete Massinger, den Blick auf seine Hände gerichtet, die er im Schoß verschränkt hatte wie zum Gebet. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich war, Sie in Évian lebend anzutreffen. Wie froh ich heute bin.«
»Danke«, erwiderte ich, bevor ich nachhakte: »Warum eigentlich?«
»Weil ich glaube – ich habe das schreckliche Gefühl, dass ich Ihren Tod in Auftrag gegeben habe. Ein entsetzlicher Irrtum, das will ich gar nicht verhehlen. Ich habe alles durcheinandergebracht.«
Dann erklärte er mir, er habe an jenem Montagmorgen, als Glockners Tod gemeldet wurde, rasch ein paar Telegramme mit Madame Duchesne gewechselt. Sie hatte den starken Verdacht, dass sein Tod mit mir in Zusammenhang stehe. Darum hatte er sie sogar angerufen, etwa eine Stunde bevor mein Dampfer ablegte. Massinger hatte mein Telegramm erhalten und im Fahrplan nachgesehen, wann ich aufbrechen würde. Er trug Madame Duchesne auf, mitzufahren und mich auf dem Schiff zu befragen. Falls ich mich in ihren Augen wirklich als Verräter entpuppte, sollte sie alle erforderlichen Schritte unternehmen, um mich meiner gerechten Strafe zuzuführen.
Als ich das hörte, war ich wie vor den Kopf geschlagen.
»Und als ich sie dann in Évian sah, erzählte sie mir, sie habe Sie erschossen«, sagte Massinger. »Sie können sich vorstellen, wie mir zumute war.«
»Sie sah?«
»Wir haben uns am Hafen getroffen. Sie war der Meinung, dass Sie in Bezug auf den Codeschlüssel – den Schlüsseltext – gelogen haben. Sie sagte, Sie hätten etwas zu verbergen. Und sie war davon überzeugt, dass Sie Glockner umgebracht haben. Wahrscheinlich war Ihre Verkleidung für sie Beweis genug.«
»Ach ja, woher wussten Sie, dass ich mich verkleiden würde?«
Die Frage brachte Massinger leicht aus der Fassung.
»Munro hat mir von Ihren Verwandlungskünsten erzählt. Oder Fyfe-Miller? Als ich die beiden in Wien getroffen habe.«
»Sie waren in Wien?«
»Hin und wieder. Vor allem letztes Jahr vor Kriegsausbruch – als ich mein Netzwerk in der Schweiz aufgebaut habe. Ihre Flucht war Stadtgespräch.«
»Verstehe … « Das war mir neu. Ich verdrängte jeden Gedanken daran. »Aber warum sollte ich Madame Duchesne überhaupt etwas verraten? Ich stand doch kurz davor, Ihnen Bericht zu erstatten, und zwar komplett – auf französischem Boden. Während Sie meine Tötung anordneten.«
Massinger zog eine Grimasse.
»Das trifft nicht ganz zu. Madame Duchesne bezichtigte Sie vehement des
Weitere Kostenlose Bücher