Eine große Zeit
Kriegsministerium, wo Tausende arbeiteten. Und es handelte sich bloß um eins der kriegführenden Länder. Eine Verschickungsabteilung gab es sicher auch in Frankreich, in Deutschland, in Russland, in Österreich-Ungarn …
Je mehr Lysander sich bemühte, die gigantischen Auswüchse zu ermessen, die diese industrieartige Bürokratisierung der zivilisierten Welt nahm, stets im Hinblick auf das gleiche Ziel, nämlich die kriegführenden Armeen mit Nachschub zu versorgen, desto schwindliger wurde ihm. Welch herkulische Anstrengung, Millionen von Arbeitsstunden, die Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat darauf verwendet wurden. Als er sich dieses unfassbare tägliche Ringen vor Augen führte, war er bizarrerweise froh, das Frontleben am eigenen Leib erfahren zu haben. Möglicherweise wurden hier aus diesem Grund verwundete Soldaten anstelle von Staatsbeamten oder sonstigen Funktionären beschäftigt. Die kommissarischen Hauptmänner und Majore, die in der Verschickungsabteilung schalteten und walteten, kannten wenigstens die physischen, persönlichen Konsequenzen der »Ausrüstungslieferung«, die sie veranlassten.
Lysander dachte grimmig an seine eigenen Erfahrungen zurück. Als er die Mills-Granaten Nr. 5 in den Graben unterhalb des verfallenen Grabmals geworfen hatte, war damit auch die langwierige Reise dieser kleinen Bomben zu Ende gegangen – eine Reise, die weit durch Zeit und Raum zurückreichte, einer makabren, immer länger werdenden Kielspur gleich. Die Granaten hatten als Erz begonnen, das in Kanada abgebaut und nach England verschifft worden war, wo es verhüttet, gegossen, gedreht, gefüllt und in eine Schachtel verpackt wurde, unter der Bezeichnung »Ausrüstung, die vom Vereinigten Königreich nach Frankreich zu liefern ist«. Vielleicht waren in irgendeinem ländlichen Bahnhof in Nordfrankreich neue Nebengleise für den Zug gebaut worden, der diese Ausrüstung transportierte (und was musste wohl alles aufgeboten werden, um ein Nebengleis zu bauen?). Von dort aus waren die Granaten zu einem Munitionslager oder Depot gebracht worden, und zwar mit einem Lasttier, dessen Furage ebenfalls über Rouen und Le Havre angeliefert wurde. Danach hatten Soldaten die Munitionsschachteln durch vom »Arbeitscorps aus der Südafrikanischen Union« ausgehobene Laufgräben zur Front getragen. Und dann wurden diese Mills-Granaten Nr. 5 in den Tornister von Leutnant Lysander Rief gesteckt, der sie im Niemandsland in einen Verbindungsgraben unterhalb eines Grabmals warf, wo ein Mann mit schwarzem Schnurrbart und ein hellblonder Junge sie verzweifelt im Dunkeln suchten, inmitten der Trümmer, inständig hoffend und betend, dass sie aufgrund eines handwerklichen Fehlers oder Transportschadens nicht explodieren würden … Pech gehabt.
Lysander brach der Schweiß aus. Halt. Dieser Weg führt zum Wahnsinn. Er dachte zunächst an die Spitze eines Eisbergs oder an eine umgedrehte Pyramide, aber dann fiel ihm aus heiterem Himmel ein Bild ein, das sich viel besser zur Veranschaulichung dieser Vorgänge eignete. Ein Winterlagerfeuer.
Er erinnerte sich, wie es zuweilen an eiskalten Wintertagen war, wenn man ein Lagerfeuer anzündete und der Rauch nicht richtig aufsteigen wollte. Der kleinste Windhauch breitete ihn flächig über die Umgebung aus, als waagrechte Rauchwolke, die langsam anwuchs und dicht über dem Boden schwebte, ohne sich in höheren Sphären aufzulösen wie an wärmeren Tagen. Auf ihn wirkten diese ungeheuren Kriegsanstrengungen wie ein Winterlagerfeuer – ja, aber unter umgekehrten Vorzeichen. Als ballte sich die gewaltige über dem Boden schwebende Rauchwolke an einem einzigen winzigen Punkt zusammen, um das wütend lodernde Feuerchen zu nähren. Kilometerlange, breite Bahnen dichten Rauchs, die sich zusammenzogen und voll und ganz auf die knisternden, flackernden kleinen Flammen ausrichteten, die inmitten welken Laubs und abgestorbener Zweige orangerot leuchteten.
Lysander verließ Zimmer 205. Auf seinem Gang durch die Abteilungsflure begegnete er anderen Offizieren sowie einigen Schreibkräften. Niemand schenkte ihm Beachtung, und überall war dieselbe Geräuschkulisse aus klingelnden Telefonen und klappernden Schreibmaschinen zu vernehmen. Er spähte in einen Raum, dessen Tür halb offen stand, und sah drei Offiziere, die hinter ihren Schreibtischen alle gleichzeitig telefonierten. Zwei Sekretärinnen, die einander gegenübersaßen, hämmerten auf ihre Schreibmaschinen ein, als gälte es, ein
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