Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
Vom Netzwerk:
hartgesottene Hamo musste sich von diesen schmeichelhaften Äußerungen erweichen lassen, und Lysander ließ gern zu, dass Johnson seinen Onkel entführte. Er hörte ihn noch fragen: »Kennen Sie Joseph Conrad? Nein? Sie würden sich blendend mit ihm verstehen.«
    Lysander wandte sich wieder dem Dienstmädchen mit dem Tablett zu und nahm sich noch ein Glas Sherry.
    »Wann wird das Mittagessen serviert?«, fragte er, während er das Mädchen eindringlich musterte. Sie war tatsächlich bildhübsch. Was für eine Vergeudung, dass sie Bonham Johnsons Gäste bediente.
    »Gegen halb zwei, Sir. Es werden noch einige Gäste erwartet.«
    »Meine Frage hört sich vielleicht seltsam an, aber haben Sie jemals daran gedacht –«
    »Lysander?«
    Als er sich umdrehte, erkannte er sie nicht auf Anhieb. Ihre Haare waren dunkler, kurz geschnitten, mit einem strengen geraden Pony über den Augenbrauen. Sie trug ein Jerseykleid mit einem Muster aus großen bunten Rauten – Orange, Goldgelb, Zimtrot. Lysander zuckte unter dem Schock zusammen.
    »Hettie … «
    »Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich habe Bonham gesagt, dass man dich bestimmt über deinen Onkel ködern könne.« Sie reckte sich, um ihn auf die Wange zu küssen, und er roch wieder ihr Parfum, zum ersten Mal seit anderthalb Jahren. Nun kamen ihm die Tränen. Er schloss die Augen.
    »Du steckst also dahinter … «
    »Ja. Ich musste einen Weg finden, dich wiederzusehen. Du bist mir doch nicht böse?«, fragte sie.
    »Nein. Bin ich nicht.«
    »Ist alles in Ordnung? Du bist auf einmal so blass.«
    »Ist Lothar auch hier?«
    »Nein, wo denkst du hin? Er ist in Österreich.«
    Noch nie war Lysander einem solchen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt gewesen.
    »Können wir kurz vor die Tür gehen?«, brachte er mühsam hervor.
    »Nein. Das würde Jagos Argwohn wecken. Es wird ihm ohnehin nicht gefallen, dass ich mich so lange mit dir unterhalte.«
    »Wer ist Jago?«
    »Mein Ehemann – Jago Lasry.«
    Lysander ahnte, dass er mit diesem Namen eigentlich etwas verbinden müsste, aber er hatte noch nie von dem Mann gehört.
    Hettie warf ihm einen süffisanten Blick zu.
    »Tu doch nicht so. Jago Lasry, der Autor von Crépuscules . Na? Klingelt es jetzt bei dir? Der blitzschnelle Blaufuchs und andere Erzählungen . Sagt dir das nichts?«
    »Seit der Krieg ausgebrochen ist, bin ich bei der Armee – vom Rest der Welt abgeschnitten.«
    Als sie näher trat, wurde ihm wieder bewusst, wie klein und zart sie war – ihr Scheitel reichte ihm gerade mal bis zur Brust. Sie senkte die Stimme.
    »Beim Essen werde ich neben dir sitzen, aber wir müssen so tun, als ob wir uns nicht kennen – oder nur ganz flüchtig. Und ich werde nicht mehr Hettie genannt. Jetzt heiße ich Venora.«
    »Venora?«
    »Ein keltischer Name. Ich habe Hettie immer gehasst. In Wien ging es ja noch, aber hier ist das unvorstellbar. Hettie Lasry! Wie hört sich das an. Wir sehen uns bei Tisch.«
    Noch immer zutiefst aufgewühlt, blickte Lysander ihr mit feuchten Augen hinterher, während sie sich ihren Weg durch die Gästeschar bahnte, um sich zu einem der krawattenlosen jungen Männer zu gesellen. Ein drahtiges Kerlchen, Ende zwanzig, schätzte Lysander, mit einem dunklen, ungleichmäßigen Bart. Er trug einen kastanienbraunen Cordanzug. Jago Lasry, der Autor von Crépuscules . Lysander sah, dass er sich den Hals nach ihm verrenkte. Also hatte Hettie/Venora dafür gesorgt, dass man ihn einlud … Er fragte sich, was sie wohl von ihm wollte, trank seinen Sherry aus und holte sich noch ein Glas.
    Den Rest von Hetties Geschichte bekam er beim Mittagessen zu hören – in kleinen, unzusammenhängenden Häppchen, mit vielen Wiederholungen und Erläuterungen, die auf sein Drängen hin erfolgten. Er war entgeistert, als er erfuhr, dass sie schon seit Jahresbeginn in England lebte. Sie hatte Wien im November 1914 verlassen und war zunächst in die Schweiz gereist, bevor sie über Italien und Spanien in ihre Heimat zurückkehrte.
    »Warum hast du Lothar nicht mitgenommen?«
    »In Österreich ist es für ihn viel schöner. Er wohnt in Salzburg, bei einer Tante von Udo, und ist dort sehr glücklich.«
    »Hast du ein Foto von ihm?«
    »Ja, aber … nicht hier. Im Übrigen weiß Jago nichts von Lothar. Das bleibt also bitte unter uns, wenn du nichts dagegen hast.«
    Kurz nach ihrer Rückkehr war sie Jago begegnet, und sie hatten im Mai geheiratet, wie sie Lysander berichtete (»Es war Liebe auf den allerersten Blick«). Zurzeit

Weitere Kostenlose Bücher