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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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unausstehlichen Gatten über Freud stritt. Hier sieht man allerdings viele lange Gesichter. Gerade in unserer Abteilung erfährt man schnell, wann die Lazarettzüge ausgelastet sind. Man hatte für 40000 Verwundete vorgesorgt, und es zeigt sich schon jetzt, dass das bei weitem nicht reicht. Es hatte an schwerer Artillerie gefehlt, die Munitionslager waren nicht rechtzeitig aufgefüllt worden. Und die Wirksamkeit unserer Giftgaswolke scheint sehr begrenzt gewesen zu sein – Beschwerden zufolge verharrte sie über dem Niemandsland oder schwebte sogar zu unseren Gräben zurück, wo sie unsere eigenen Leute blendete und verwirrte, während sie sich auf den Angriff vorbereiteten. Für kräftigen Westwind hatte die Verschickungsabteilung leider nicht sorgen können.
    Während ich Osborne-Ways Liste durchgehe, wird mir schnell klar, dass die meisten Offiziere in dieser Abteilung sicher keinen Zugang zu allen Informationen haben, die in den Glockner-Briefen enthalten waren. Trotzdem habe ich aus taktischen Gründen beschlossen, ausnahmslos alle zu befragen – ich möchte mich nicht auf einzelne Gruppen beschränken und dadurch Verdacht erregen. Andromeda, wer es auch sei, darf auf keinen Fall durch diese Untersuchung beunruhigt werden, die offiziell der Nachbereitung von Sir Horace Edes Transportkommission dient. Also habe ich Tremlett kommen lassen und ihm die komplette Liste in die Hand gedrückt, damit er mit allen Termine vereinbart. Ich werde mit einem gewissen Major H.B. O’Terence beginnen, der für »Reisegenehmigungen zu Land. Verwandtenbesuche bei Verwundeten in Krankenhäusern auf französischem Boden« zuständig ist. Er wird in den nächsten Tagen und Wochen eine Menge zu tun bekommen – darum sollte ich ihn möglichst als Ersten befragen.
    Das Wiedersehen mit Hettie hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Im Handumdrehen verspürte ich die gleiche sexuelle Anziehung wie früher. Dieses unfassbare Verlangen. Ich sah sie erneut nackt vor mir, dachte an unsere gemeinsamen Tage und Nächte. Die Verwirrung und die widersprüchlichen Gefühle, die sie stets bei mir ausgelöst hatte, sind sofort zurück. Venora Lasry – kaum zu glauben. Und was ist mit Lothar? Dein Sohn, dein kleiner Junge. Auch hier wechseln meine Gefühle ständig. Zunächst kommt er mir unwirklich vor, wie ein reines Produkt meiner Fantasie, eine Erfindung – und dann denke ich an diesen kleinen Jungen, fast noch ein Baby, der bei Udo Hoffs Tante in einem Vorort von Salzburg lebt. Ob Hettie ihn vermisst? Warum will sie ihrem neuen Mann partout nicht erzählen, dass er einen Stiefsohn hat? Ich habe mir Lasrys Gedichtband gekauft, Crépuscules . In erster Linie modernistischer Unsinn. Er zeigt mir, wie verführerisch und gefährlich der freie Vers ist – er verleitet einen schnell dazu, manieriert und kryptisch zu werden. Meiner Meinung nach schießt Lasry oft übers Ziel hinaus. Ich hingegen bemühe mich um Genauigkeit.
    SIEBTES CAPRICCIO IN PIMLICO
    Der junge Morgen erschuf sich selbst
    Und warf über die Schulter einen Blick
    Auf seine Schöpfung.
    Abfall, Plunder, Scherben und einen Tick
    Grünes England, unbesudelt, reine
    Schönheit. Sieh nur den Reigen:
    Die Mädchen steigen empor,
    Die Jungen fallen um.
    Die Piccadilly Line nehmen,
    Am Leicester Square tropische Luft
    Atmen, sich locken und betören lassen.
    Irre ich mitternachts durch die Straßen,
    Täuschen die Gaslaternen strahlend
    Mir den Sonnenaufgang vor.
    Les colombes de ma cousine
    Pleurent comme une enfant.
    Ich habe Tremlett gebeten, mir einen Gefallen zu tun und die Verlustlisten der Manchester Fusiliers nach einem Leutnant Gorlice-Law und einem Feldwebel Foley durchzusehen. Tremlett kehrte mit der Nachricht zurück, dass Leutnant Gorlice-Law am 27. Juni seinen Verwundungen erlegen war und ein Feldwebel namens Foley in Stoke Newington im Krankenhaus lag. »Ist wohl erblindet, Sir«, sagte Tremlett und deutete auf seine Augenklappe. »Jedenfalls hat man mir dort den Glubscher entfernt.« Gorlice-Law war also einen Tag nach unserem Streifzug im Niemandsland gestorben … Ich denke, ich sollte Foley besuchen und herausfinden, was genau in jener Nacht passiert ist, nachdem ich fortgerobbt bin und sie zurückgelassen habe. Ich werde von Schuldgefühlen heimgesucht, die sich nicht ohne weiteres verscheuchen lassen. War es wirklich meine Schuld? Nein, du Schwachkopf. Man hatte dir befohlen, diesen Verbindungsgraben zu bombardieren, als Ablenkungsmanöver. Danach haben Mars und

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