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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Fortuna das Zepter übernommen, und du warst ihren unberechenbaren Launen ebenso hilflos ausgeliefert wie jeder andere der abertausend Soldaten, die einander auf beiden Seiten der Front gegenüberstanden.

6. Unwahrscheinliche Verdächtige
    Die folgenden drei Tage führte Lysander seine Befragung der Offiziere im beengten, aseptischen Umfeld von Zimmer 205 aus. Dabei schlug er stets den Ton langweiliger Routine und entschuldigender Höflichkeit an – niemand sollte das leiseste Misstrauen hegen. Er bat die Betroffenen um Verständnis – ihm sei durchaus bewusst, dass er kostbare Zeit beanspruche – und bemühte sich um größtmögliche Liebenswürdigkeit, aber die Offiziere begegneten ihm alle mit Argwohn und Verärgerung, zuweilen sogar mit Geringschätzung. Osborne-Way hatte offensichtlich den Boden bereitet.
    Nach Abschluss der Befragungen hielt Lysander sechs Namen auf seiner Liste fest, darunter auch den des Abteilungsleiters. Jeder dieser Männer war theoretisch in der Lage, die spezifischen Informationen weiterzugeben, die in den Glockner-Briefen enthalten waren. Vier von ihnen waren für die »Verschickung und Überwachung von Kriegsmaterial und Ausrüstung nach Frankreich« zuständig. Einer war mit der allgemeinen Hafenkontrolle befasst, ein anderer mit dem Eisenbahnmaterial – »Panzerzüge, Schotter, Nutzholz, Schlacke und Kohle«. Einer zählte zu den wenigen Zivilisten der Abteilung und kümmerte sich ausschließlich um die Erstellung von Schiffsstatistiken – was bedeutete, dass sämtliche Fakten und Zahlen auf seinem Schreibtisch landeten. Abgesehen von Osborne-Way (ein unwahrscheinlicher Verdächtiger, den Lysander aber keineswegs verwerfen wollte – je unwahrscheinlicher, desto verdächtiger), erregten zwei Männer sein besonderes Interesse: ein gewisser Major Mansfield Keogh (Royal Irish Regiment), stellvertretender Abteilungsleiter, die Nummer zwei nach Osborne-Way, sowie Hauptmann Christian Vandenbrook (King’s Royal Rifle Corps), der den »Versand von Munition, Artillerie, Nachschub und Pionierausrüstung nach Frankreich« verantwortete.
    Im Prinzip erlosch die Zuständigkeit der Verschickungsabteilung, sobald die Ausrüstung in Le Havre, Rouen oder Calais angekommen war; dann ging sie auf den Stab des Generalsquartiersmeisters im Hauptquartier in Saint Omer über. Doch in der Praxis ergaben sich immer wieder Probleme – Züge verschwanden, die Munition landete im falschen Depot, Schiffe wurden im Ärmelkanal versenkt. Lysander fand es bezeichnend, dass sowohl Keogh als auch Vandenbrook 1915 beide unabhängig voneinander nach Frankreich gereist waren, und zwar drei Mal (Osborne-Way war zwei Mal dort gewesen), um sich mit dem Leiter der Abteilung für Bahntransporte sowie seinem Personal abzustimmen und den Bau von Verschiebebahnhöfen und Nebengleisen zu überwachen. Ideale Gelegenheiten, um alles in Erfahrung zu bringen, was die Glockner-Briefe preisgaben.
    Keogh war ein stiller, ernster, tüchtiger Mann, den ein privater Kummer zu bedrücken schien. Trotz seiner Höflichkeit und Auskunftsbereitschaft hatte Lysander das Gefühl, dass er in dessen Augen ein Nichts war – eine summende Fliege, ein Fetzen Papier, ein welkes Blatt auf dem Bürgersteig. Keogh sah ihn ausdruckslos an. Im Gegensatz dazu entpuppte sich Vandenbrook als der zugänglichste und freundlichste aller Befragten. Er war klein und schlank, ein gutaussehender Mann mit ebenmäßigen Zügen und einem hellen, schneidig gezwirbelten Schnurrbart. Seine Zähne – er lächelte gern und oft – wirkten auf Lysander fast unnatürlich weiß. Vandenbrook war der Einzige, der an ihm Interesse zeigte und sich offenbar gern daran erinnerte, dass er Leutnant Rief vor dem Krieg im Theater gesehen hatte. In der Abteilung war sein Vorleben allgemein bekannt, wie Lysander wusste – mehr als einmal hatte er mitbekommen, wie Osborne-Way ihn als »diesen verfluchten Bühnenheini« bezeichnete – , aber niemand außer Vandenbrook wollte das offen und vorurteilsfrei anerkennen. Damit gewann er Lysanders Sympathie.
    Dass Keogh und Vandenbrook mehrfach nach Frankreich gereist waren, hatte Lysander dem Kriegstagebuch der Abteilungsleitung entnommen. Tremlett beschaffte ihm den Ordner, in dem sämtliche »Reisegenehmigungen zu Land« aufgeführt waren. Keogh war für den Hafen von Dover zuständig, Vandenbrook für Folkestone. Beide fuhren alle paar Tage in die jeweilige Hafenstadt, wo die Abteilung Zweigstellen unterhielt, und ihre Reisekosten

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