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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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andere als klug. Aber ich kann nicht anders, Hamo. Ich bin ihr verfallen.«
    »Das verstehe ich. Nur zu gut.«
    Nach dem Mittagessen hatte Hettie ihn mit Jago Lasry bekannt gemacht, und Lysander war sich wie ein Verbrecher vorgekommen, so argwöhnisch und feindselig musterte ihn der andere. Hettie hakte sich bei ihrem Mann ein und versuchte, wie eine rundum glückliche Ehefrau zu wirken.
    »Wir waren in Wien beide bei demselben Arzt in Behandlung«, erklärte Lysander, um diesem hitzigen kleinen Mann möglichst keine Angriffsfläche zu bieten.
    »Beim selben Quacksalber, wollen Sie sagen.«
    »So weit würde ich nicht gehen.«
    »Wie weit würden Sie denn gehen, Mr Rief?«
    »Mir hat Dr Bensimon mit seiner Therapie sehr geholfen. Er hat mein Leben verändert.«
    »Venora hat er bloß mit Drogen vollgepumpt.«
    »Freud hat auch Coca genommen. Er hat darüber ein Buch geschrieben.«
    Daraufhin entbrannte zwischen ihnen eine kurze, heftige Diskussion über die Defizite Sigmund Freuds und des Freudianismus. Lysander fühlte sich zunehmend überfordert, als Lasry von Carl Jung und dem IV. Internationalen Psychoanalytischen Kongress anfing, der 1913 in München stattgefunden hatte, Themen, die Lysander völlig fremd waren. Insgeheim versuchte er, Lasrys Akzent zu orten – Mittelengland, dachte er, die Kohlenreviere von Nottingham, doch bevor er darüber Gewissheit erlangen konnte, nahm Johnson Lasry beiseite, um ihm den Herausgeber der English Review vorzustellen. Lysander blieb ausgelaugt zurück.
    »Ich sollte ihm lieber folgen«, sagte Hettie. »Du hast ihn offensichtlich schwer verstimmt.«
    »Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen, als du wieder in England warst?«, fragte Lysander, der sich auf einmal gekränkt und verletzt fühlte.
    »Ich dachte, das hätte keinen Sinn. Ich dachte, du würdest mir die Sache mit Lothar niemals vergeben. Und das mit der Polizei. Und alles andere.«
    Lysander dachte daran, was er Hetties wegen in Wien alles hatte erdulden müssen, und plötzlich kamen seine ganze Wut und Enttäuschung wieder hoch. Er fragte sich, warum er den rasenden Zorn, den Hettie regelmäßig in ihm auslöste, nicht aufrechterhalten konnte. Was hatte sie nur an sich? Wie konnte sie ihm so schnell den Wind wieder aus den Segeln nehmen?
    »Ich vergebe dir«, sagte er matt. »Komm mich in London besuchen. Bitte. Dann wird sich alles klären.«
    Wie hatte er das bloß gemeint?, überlegte Lysander, als er am späten Abend in sein Zimmer hinaufging, benebelt und betäubt vom vielen Whisky, den er getrunken, und vom Gefühlsaufruhr, der ihn den ganzen Tag gepeinigt hatte. Als er sich auszog, fiel ihm ein, dass die Jagd nach Andromeda am nächsten Morgen ernsthaft losgehen sollte. Vor lauter Trunkenheit kam ihm der Gedanke, dass er der echten Andromeda in einem Haus in Romney, inmitten der Marschen, bereits wieder begegnet war, in ihrer ganzen aufdringlichen Schönheit.
    Zufall? Gab es eine Verbindung zwischen Wien und der Andromeda-Sache?, fragte er sich schläfrig. Wenn Hettie ihn nicht der Vergewaltigung bezichtigt, wenn er Munro nicht über die Botschaft kontaktiert, wenn er seine eigene Flucht nicht so kunstvoll geplant und ausgeführt hätte, würde sein Leben nun ganz anders verlaufen. Aber wozu Rückschau halten? Sie zeigte doch nur die vielen verschiedenen Wendungen, die das Leben eines Einzelnen nimmt, die genutzten und verpatzten Gelegenheiten, die Willkür von Glück und Pech. Dennoch ließen ihm diese und andere Fragen die ganze Nacht keine Ruhe, während er sich im Bett hin und her wälzte, die Kissen umdrehte und ausklopfte, die Fenster öffnete und wieder schloss, darauf wartend, dass die Sonne aufging. Er brachte eine Stunde Schlaf zustande und war bei Morgenanbruch auf den Beinen, gestiefelt und gespornt, um am Gasthof von Winchelsea einen Pferdewagen zu besteigen und sich nach Rye kutschieren zu lassen. Montag, der 27. September 1915. Die Jagd hatte begonnen.

5. Autobiographische Untersuchungen
    Heute Morgen habe ich mir auf dem Weg zur Arbeit eine Zeitung gekauft. »Durchschlagende Offensive in Loos«; »Feind weicht vor unserer Geheimwaffe zurück«; »Trotz schwerer Verluste entscheidende Vorstöße an der ganzen Front«. Diehurrapatriotischen Worthülsen des Militärjournalismus. Begonnen hatte die Offensive an diesem Wochenende, während ich in Winchelsea und später bei Bonham Johnsons Geburtstagsessen war, am Sherry nippte, mich von Hettie unter dem Tisch berühren ließ und mit ihrem

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