Eine große Zeit
Zunge.
»Wir können es versuchen, aber es wird wohl dauern. Und wahrscheinlich müssen Sie dafür selbst mit Ihrem magischen Passierschein wedeln.«
»Danke, Tremlett. Das wäre vorerst alles.«
Lysander sah Keoghs Abrechnungen durch und notierte sich, wann er in den letzten Monaten nach Dover gefahren war. Als er die Daten mit Vandenbrooks Reiseterminen abglich, stellte er fest, dass die Tage nur manchmal übereinstimmten. Dabei fiel ihm auf, dass Vandenbrook höchst selten in Folkestone übernachtete – seine Belege wiesen Hotels in Deal, Hastings, Sandwich, Hythe und einmal in Rye auf. Vielleicht versucht er zwischendurch immer, eine Runde Golf zu spielen, mutmaßte Lysander, oder er sucht nach Feierabend etwas Abstand von der Abteilung und ihrer Zweigstelle. Kluger Mann.
Es klopfte. Lysander stellte die Champagnerflasche wieder in den Eiskübel, ging so gefasst wie möglich zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand Hettie, lächelnd, als wäre diese Zusammenkunft das Natürlichste und Normalste der Welt.
»Was hast du dir nur für ein komisches kleines Hotel ausgesucht«, sagte sie beim Eintreten. »Mein Zimmer ist winzig.« Als Lysander die Tür schloss, hatte er das Gefühl, mit warmer, rauer Wolle ausgestopft zu sein – er konnte kaum atmen und brachte kein einziges Wort zustande. Seine Knie waren so weich, dass er fast umgefallen wäre.
»Willst du mir keinen Kuss geben?«, fragte Hettie. Sie nahm ihren Hut ab und schleuderte ihn auf einen Sessel. »Weg mit den Kleidern – dann können wir von mir aus gern Champagner trinken.«
»Hettie, um Himmels willen –«
»Komm schon, Lysander. Wer als Erster fertig ist.«
Sie küssten sich lange und innig. Und nachdem sie sich beide ausgezogen hatten, schenkte Lysander den Champagner ein. Ihm war nicht entgangen, dass Hettie ihre Seidenstrümpfe und hochhackigen Schuhe anbehalten hatte, genau wie den Schmuck. Jettperlen um den Hals, unzählige Elfenbeinreifen am Arm.
»Was tun wir da?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Warum muss es so ablaufen?«
»Weil ich dich kenne, Lysander. Weißt du noch?« Es klang fast, als wollte sie ihn schelten. »Weil ich genau weiß, was dir gefällt.« Ganz unbefangen spazierte sie im Zimmer herum und prüfte, ob die Vorhänge ganz zugezogen waren. »Findest du das nicht aufregend? In einem Hotel in Pimlico nackt Champagner zu trinken … « Sie blickte nach unten. »Mir scheint, die Antwort ist ja.«
Hettie trat auf ihn zu. Er strich ihr sanft über die Brüste und schloss sie in die Arme. Am liebsten hätte er geweint, als würde sich hier, in diesem bescheidenen Zimmer, seine Bestimmung erfüllen: Hettie endlich wieder in den Armen zu halten. Das war ja das Problem, oder vielmehr sein Problem mit ihr – keine andere Frau konnte ihm das geben, was Hettie ihm gab. Keine andere löste ein solches Verlangen in ihm aus.
Hettie küsste ihn auf die Brust und presste sich mit ihrem kleinen Leib an ihn. »Du hast mir gefehlt«, flüsterte sie. Dann führte sie ihn zum Bett.
7. Das Dene Hotel in Hythe
Seit Ende 1914 unterhielt die Verschickungsabteilung Zweigstellen in Dover und Folkestone, um die Verladung und Beförderung der Millionen Tonnen von Ausrüstung, die wöchentlich nach Frankreich verschifft wurden, besser beaufsichtigen zu können. Das Personal bestand überwiegend aus ehemaligen Beamten der Hafenbehörde und Bürokräften, allerdings fuhren Keogh und Vandenbrook regelmäßig hin, um die Arbeit der jeweiligen Zweigstelle zu überprüfen oder, was häufiger der Fall war, Probleme zu lösen.
Am Montag las Lysander im jüngsten Abteilungsbericht, dass zwei Frachter im Ärmelkanal kollidiert waren, einer war infolgedessen gesunken, was mit dem Verlust von »600 schwarzen Arbeitscorpssoldaten (ca.)« einherging. Am Rand hatte Osborne-Way mit seiner kleinen, schwer lesbaren Schuljungenschrift vermerkt: »Hauptmann VdenB. zur Kenntnis«. Lysander bat Tremlett, sich nach Vandenbrooks Verbleib zu erkundigen, und erfuhr, dass der Hauptmann am Morgen nicht erschienen, sondern gleich nach Folkestone gefahren war, »um die katastrophale Lage zu sondieren«.
Lysander ließ sich von Tremlett einen Eisenbahnpass besorgen und bestieg noch am Vormittag einen Zug, der vom Victoria-Bahnhof aus Richtung Küste fuhr. In Folkestone verhandelte er so lange mit einem Taxifahrer, bis dieser sich widerwillig bereit erklärte, ihm für fünf Pfund in bar bis Mitternacht zur Verfügung zu stehen. Lysander musste an die Soldaten denken,
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