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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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ein wenig einfältig wirken, obwohl sie das keineswegs war. Vermutlich hatte Vandenbrook seinen Charme mehr als einmal bei ihr spielen lassen.
    »Ja, in London.«
    »Könnten Sie ihm dann bitte ausrichten, dass seine Umschläge alle abgeholt wurden, wie von ihm angeordnet? Und zwar stets innerhalb von zwei Tagen.«
    »Das richte ich ihm gern aus, danke.«
    Beim Abschied versprach er außerdem, dem Hauptmann die herzlichsten Grüße des Personals vom Pelham Hotel in Hastings zu übermitteln, und versuchte, so gelassen wie möglich hinauszugehen. Tremlett stand rauchend neben dem Daimler, die Mütze in den Nacken geschoben. In Verbindung mit der Augenklappe machte das einen ungewöhnlich schlampigen Eindruck. Als Lysander auf ihn zutrat und ihm die Mütze richtete, warf Tremlett seine Zigarette weg.
    »Nach London zurück, Sir?«
    »Nach Hythe.«
    »Ich dachte, für heute wäre die Arbeit erledigt, Sir.«
    »Arbeit ist das ganze Leben, Tremlett. Ein bisschen Tempo, bitte.«
    Und so fuhren sie über die Küstenstraße nach Hythe und kehrten ins Dene Hotel zurück. Als Lysander an die Rezeption trat, hatte er das Gefühl eines Déjà-vu. Zum dritten Mal binnen 48 Stunden fand er sich hier ein.
    »Guten Abend, Sir. Willkommen zurück.«
    »Ich hätte da noch eine Frage … Hat Hauptmann Vandenbrook etwas dagelassen – möglicherweise in seinem Zimmer?«
    »Ach, Sie meinen den Umschlag. Das hätte ich Ihnen schon heute Morgen sagen sollen. Sonst werden sie immer von einem Dienstmann abgeholt.«
    Der Rezeptionist holte einen großen, gelbbraunen Umschlag unter dem Tresen hervor. Darauf stand: »Hauptmann C. Vandenbrook – wird abgeholt.«
    Lysander bedankte sich und ging in die Bar. Dort war es ruhig – einzig ein alter Mann saß in der Ecke, rauchte Pfeife und las Zeitung. Ein eisiger Schauer lief Lysander über den Rücken, als stünde er in arktischer Zugluft. Seltsamerweise fing seine Oberschenkelwunde auf einmal an zu schmerzen, eine Art Brennen. Er wusste genau, was in dem Umschlag steckte. Er riss ihn auf und las:
    »145 tau Haubitz Geschosse 15 cm nach Béthune. 65 beladene Güterwagen in Le Mans. Reparatur Telegraphenleitungen Hazebrouck, Lille, Orchies, Valenciennes. Neue Regelspur Gezaincourt-Albert. Geschützgleis Pionierausrüstungsdepots Dernancourt. 12 unbefristete Lazarettzüge Dritte Armee Zweite Armee.«
    Lysander überflog die nächste Seite. So ging es endlos weiter. Er schob die drei Briefbögen behutsam in den Umschlag zurück, faltete ihn einmal längs und steckte ihn in die Jackentasche. Danach bestellte er ein großes Glas Brandy und versuchte sich zu sammeln. Er durfte sich nur auf eines konzentrieren – weiterführende Spekulationen wären müßig. Er hatte seine Andromeda gefunden.

9. Autobiographische Untersuchungen
    Ich beschloss, es vorerst für mich zu behalten und nichts zu unternehmen. Zu vieles kam mir unstimmig vor – nicht zuletzt die Präsenz meiner Mutter. Als ich den Umschlag aufmachte, hatte ich mit jenen Zahlenkolonnen gerechnet, die ich aus den sechs Glockner-Briefen kannte, doch stattdessen waren die Seiten mit Klartext beschrieben – mit den nackten Fakten, die Vandenbrook dank seiner Position in Erfahrung bringen konnte. Nicht zum ersten Mal seit Beginn dieser Geschichte hatte ich das Gefühl, im Nebel zu stochern – zwar konnte ich ein paar Einzelheiten ausmachen, aber keinen Zusammenhang erkennen – und an unsichtbaren Strippen zu hängen, die von einem oder mehreren Fremden gezogen wurden. Ich brauchte Zeit, um diese neuen Erkenntnisse zu verarbeiten, um nachzudenken, außerdem musste ich jeden meiner künftigen Schritte mit äußerster Vorsicht erwägen. Vielleicht sollte ich nun selbst zur Offensive übergehen. Ich musste erst ein paar Dinge klären, bevor ich meine erstaunliche Entdeckung mit Munro und Massinger teilen konnte. Zunächst wollte ich Vandenbrook zur Rede stellen, mal sehen, zu welchen Ausflüchten er greifen würde, um den Inhalt seines Umschlags zu rechtfertigen. Danach musste ich mich dringend mit meiner Mutter unterhalten.
    John Bensimons Bart ist stark ergraut, seit ich ihn das letzte Mal in Wien gesehen habe. Er hat auch zugenommen, trotzdem kam er mir in gewisser Weise schmächtiger vor. Vielleicht liegt es nur daran, dass wir uns in England wiederbegegnet sind. Wer als Psychoanalytiker in Wien eine vornehme Praxis sein Eigen nennt, nur wenige Straßen von Dr. Freud entfernt, macht naturgemäß mehr Eindruck als jemand, der seinen Patienten in

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